Zwei Männer, zwei Taten

DVD „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr" und "Ein Lebender geht vorbei“, zwei Filme von Claude Lanzmann, die auf einer DVD erschienen sind. Und verschiedene Geschichte erzählen

Auf den ersten Blick haben die beiden Filme wenig miteinander zu tun. In Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr erzählt der polnische Jude Yehuda Lerner, heute in Israel lebend, von seiner Beteiligung am Aufstand im Vernichtungslager Sobibor. In dem zweiten Film, Ein Lebender geht vorbei, befragt Lanzmann hartnäckig den Schweizer Maurice Rossel über dessen Arbeit als Mitglied des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) während des Zweiten Weltkriegs. In dieser Eigenschaft besuchte Rossel offiziell das berüchtigte Vorzeige-Ghetto Theresienstadt und gelangte sogar kurz nach Auschwitz.

Beide Männer, wird dem Zuschauer klar, haben historisch brisante Taten vollbracht. Der eine spaltet am 14. Oktober 1943 in Sobibor mit der Axt einem SS-Mann den Schädel, der andere schreibt einen beschönigenden Bericht über Theresienstadt. Yehuda Lerners Tat gab das Fanal zum Aufstand, der zwar nicht wie geplant gelang, aber 47 Gefangenen erlaubte zu fliehen und die Existenz des Lagers als Ort der Massenvernichtung zu beenden half. Maurice Rossels Bericht vom Sommer 1944 hingegen trug dazu bei, dass Theresienstadt als Ghetto und Durchgangsstation für die Massendeportationen von Juden in die Vernichtungslager weiter funktionierte, fast bis zum Ende des Krieges.

Yehuda Lerner war ein Widerstandskämpfer mit dem Mut der Verzweiflung, Maurice Rossel ein Handlanger der Nazi-Propaganda. In beider Antagonismus in Bezug auf den Holocaust ergibt das gemeinsame Erscheinen der Filme auf einer DVD Sinn. „Meine Filme sind ein Gegenmittel zu Museen und Denkmälern“, sagt Claude Lanzmann. Schon der Filmtitel Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr verspricht Aktualität statt musealer Historisierung. Das Versprechen wird eingelöst durch radikale filmische Vergegenwärtigung der Ereignisse. Die Vergangenheit beginnt in Lanzmanns Filmen im Präsens der Tatorte.

Auditiv wird das Bild von Originalton beziehungsweise Zeugenaussagen begleitet. Kein Kommentar, keine Artefakte, keine Musik. Als Yehuda Lerner beispielsweise im Off von der Ankunft seines Transports erzählt, erblicken wir im Bild ankommend mit dem Zug im heutigen Sobibor das Namensschild auf dem Bahnhof wie Lerner es damals gesehen haben muss. In diesem scheinbar simplen Stil liegt Lanzmanns Credo als Chronist, Philosoph und Filmemacher. Damit erzeugt er ein Gefühl der Authentizität. Seht, es gibt den Bahnhof wirklich, es gibt das Lager wirklich, ebenso wie den Umschlagplatz in Warschau, den Bahnhof von Minsk. Orte können sich verändern, zeigt Claude Lanzmann, aber sie können nicht verschwinden.

Der Titel Ein Lebender geht vorbei bezieht sich auf das Gefühl, das Maurice Rossel beim Anblick der Auschwitz-Häftlinge hatte. In der Sache bleibt Rossel starr. Auch angesichts der Tatsachen von Theresienstadt, mit denen der Regisseur ihn konfrontiert, bereut Rossel nichts. Er stehe zu seinem Bericht von damals. Und dennoch bleibt Rossel vor der Kamera sitzen, verbietet auch später nicht die Verwendung des Interviews.

In klarer Aufmachung enthält die DVD das Nötigste. Das Begleitheft liefert interessante Hintergrundinformationen; vor allem einen entlarvenden Briefwechsel Maurice Rossels mit dem Nazifunktionär Eberhard von Thadden.

Claude LanzmannSobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr/Ein Lebender geht vorbei (2001/1997) DVD 9, PAL, Farbe, 160 Min., Originalfassungen mit dt. Untertiteln, absolut, 19,90

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