Kampf mit dem Unsichtbaren

Nachruf Kelly Fraser wollte mit ihrer Musik helfen, die Traumata der Inuit zu heilen
Ausgabe 03/2020
Looking for a Seal: Schlittenhunde in Kanada
Looking for a Seal: Schlittenhunde in Kanada

Foto: All Canada Photos/Imago Images

Sie sei vielleicht eine Aktivistin, obwohl sie nie eine werden wollte, sagte die Sängerin Kelly Fraser 2017 in einem Interview, und ergänzte: „Wir müssen für unsere Rechte kämpfen. Es fühlt sich so an, wie wenn ich mit einem unsichtbaren Monster kämpfen würde, das aus den Inuit das Leben saugt.“ Frasers Leben und ihre schneebedeckte Heimat Nunavut waren untrennbar miteinander verwoben, auch wenn sie Fans auf der ganzen Welt hatte, in Paris modelte, in der kanadischen Großstadt Winnipeg lebte. 1993 wurde Fraser in der kleinen Siedlung Igloolik geboren, dem gleichen Jahr, in dem das kanadische Parlament die Gründung des Inuit-Territoriums beschloss, ein Gebiet so groß wie Mexiko, das von der Hudson Bay bis zum arktischen Ozean reicht. Rund 40.000 Menschen leben heute im autonomen Nunavut, das die Inuit im Zuge der Aufarbeitung kanadischer Kolonialverbrechen zurückerhielten: Christianisierung, Ansiedlung in lebensfeindlichen Regionen, Umerziehung von Inuit-Kindern in Internaten, in denen Rassismus und Missbrauch in jeglicher Form an der Tagesordnung waren. Verbrechen, von denen auch Frasers Familie betroffen war.

Hip-Hop und Inuktitut

Mit ihrer Musik versuchte sie zur Heilung des generationenübergreifenden Traumas beizutragen. Mit 15 Jahren hatte sie begonnen, in einer Band zu spielen. Als sie Songs etwa von Tina Turner in ihrer Muttersprache Inuktitut sang, wurde die Band schlagartig im Norden berühmt. Südlich des Polarkreises bekannter wurde Fraser 2013 mit ihrer Inuktitut-Version von Rihannas Diamonds: Mit einer Freundin hatte die damals 19jährige ein Video gedreht, in dem der Song durch die klirrenden Inuktitut-Klänge und die funkelnden Schneefelder und Polarlichter eine zusätzliche Bedeutung erfährt: Die Landschaft Nunavuts als kostbares Juwel. Über 300.000 Mal wurde das Video damals auf Youtube angesehen.

Je mehr Fraser sich mit der Geschichte der Inuit beschäftigte, desto politischer wurde ihre Musik: So klagt sie in dem Song Looking for a Seal den Boykott von Robbenprodukten seit den 1980er-Jahren an. Er führte dazu, dass die Preise für Robbenfelle, oft die einzige Einnahmequelle für Inuit, fielen und zugleich die Suizidrate unter Inuit-Männern stieg. Auch Frasers Vater beging Suizid, als sie 16 Jahre alt war, und mit 17 wurde ihr ihr Baby weggenommen. Traumata, die sie in ihrem zweiten Album Sedna von 2017 verarbeitete. Benannt ist es nach der Inuit-Göttin des Meeres, der Ähnliches widerfuhr. Bei den kanadischen Juno Awards war Sedna in der Kategorie „bestes indigenes Album des Jahres“ nominiert. Es ist ein beeindruckender Dialog zwischen den Kulturen: Fließend gehen Englisch und Inuktitut, Hip-Hop und Throat Singing (Kehlkopfgesang) ineinander über. Fraser war überzeugt, dass eine Modernisierung der Inuit-Kultur unerlässlich ist, um sie zu bewahren. Eine Überzeugung, die ihr von unterschiedlichen Seiten Kritik einbrachte, von Inuit genauso wie von weißen Rassisten. Wie ihre Familie mitteilte, beging Kelly Fraser am 24. Dezember Suizid. Sie litt unter Kindheitstraumata und anhaltendem Cybermobbing. Sie befand sich gerade in Vorbereitung ihres dritten Albums. Decolonize sollte es heißen. Kelly Frasers Stimme wird schmerzlich fehlen.

Info

Hilfe bei akuten Krisen bietet jederzeit die Telefonseelsorge unter 0800 111 0 111 oder auf telefonseelsorge.de

Ania Mauruschat ist Medien- und Literaturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Sound

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden