Der gute Kohleausstieg

Strukturwandel Bürger vor Ort und Klimaschützer müssen an einem Strang ziehen – dann klappt es auch mit der Zukunft
Ein Blick auf die Vergangenheit
Ein Blick auf die Vergangenheit

Foto: Michael Gottschalk/Getty Images

Tausende Klimaaktivisten haben am Wochenende für den Kohleausstieg demonstriert, zuvor waren ebenfalls Tausende Beschäftigte aus der Kohleindustrie für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze auf die Straße gegangen. Klimaschutz oder Wirtschaft, Klimaaktivismus oder Arbeitskampf, so wird der Konflikt im Rheinland gerne dargestellt – dabei erweist sich dieser Widerspruch bei genauerem Hinsehen als Schein: auch die Wirtschaft würde von einem beschleunigten Kohleausstieg bis 2030 profitieren, legen neueste Studien dar, die Voraussetzungen dafür seien gerade jetzt optimal. Strukturbrüche wären nicht zu erwarten, das arbeiten die Studie „Beschäftigungsentwicklung in der Braunkohleindustrie" des Umweltbundesamts und der „Kohlereader 2018“ des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung heraus. Im Gegenteil würde aber ein Hinauszögern des Ausstiegs etwa bis 2040 nicht nur den Klimawandel anheizen und EU-Vereinbarungen brechen, sondern auch die wirtschaftlichen Chancen in den betroffenen Regionen verringern. Voraussetzung ist natürlich der Dialog mit den RWE-Beschäftigten und ein Modell für eine Strukturwandel, der betriebsbedingte Kündigungen ausschließt.

Um diesen Dialog sind Umwelt- und Klimaschützer schon seit Jahren bemüht, so auch Antje Grothus aus Buir. In der "Kohlekommission" vertritt sie die Tagebaubetroffenen im Rheinland. Dass man ihr vorwirft, die Ängste und Belange der Beschäftigten zu ignorieren, macht sie fassungslos. "Wir sind keine Betroffenen zweiter Klasse", sagt Grothus, "für uns waren die Tagebaue noch nie sozialverträglich." Mit dem Entstehen der riesigen Baggerlöcher wurden im Rheinischen Revier über Jahrzehnte hinweg über 40.000 Menschen zwangsumgesiedelt. Die Existenz weiterer Dörfer steht auf der Kippe.

Die Existenz tausender Arbeitsplätzen ebenfalls? Tatsächlich begünstigt die Altersstruktur der ingesamt 18.500 Beschäftigten des Braunkohlesektors einen beschleunigten Kohleausstieg. Etwa zwei Drittel der Angestellten könnten bis 2030 regulär in Rente gehen, das verbleibende Drittel der besetzten Jobs würde nicht einmal ausreichen, um die zuletzt geschlossenen Tagebaue zu rekultivieren. Zu diesem Zeitpunkt – vorher nicht – wären also Neueinstellungen sinnvoll und notwendig. Aus den Daten lässt sich ablesen, dass sogar ein Kohleausstieg bis 2025 sozialverträglich möglich wäre, allerdings durch Instrumente wie Frührente, Weiterbildung und einen Wechsel in andere Arbeitsbereiche.

Lebensqualität statt Wachstum

Es gibt genug Gründe, diesen schnellstmöglichen Weg zu beschreiten. Das CO2-Budget, das zur Erreichung des Ziels der Begrenzung einer Erderwärmung um höchstens 1,5 Grad noch verbraucht werden darf, wird - auf den deutschen Stromsektor bezogen - bis Ende des Jahres ausgeschöpft sein. Damit hat die Realität alle Ausstiegs-Szenarien überholt. Die Klimakatastrophe ist inzwischen auch in Deutschland spürbar, fordert Menschenleben und verursacht Kosten von über 23 Milliarden Euro pro Jahr. Der durch die Kohleverbrennung entweichende Cocktail aus Gift- und Schadstoffen führt jedes Jahre zum frühzeitigen Tod tausender Menschen und zu Krankheitsfällen im sechsstelligen Bereich. Davon betroffen – mit Asthma oder Diabetes – sind vor allem Kinder.

Als die Europäische Union die ab 2021 geltenden Grenzwerte für Stickoxid, Feinstaub und Quecksilber verschärfte, scheiterte die Bundesregierung in dem Versuch, dies zu verhindern. Sie ist auch jetzt nicht gewillt, die Einhaltung der Grenzwerte sicher zu stellen. Diese sind bisher nicht gesetzlich verankert, trotz Ermahnungen aus Brüssel. Wenn die knapp 20 ineffizienten und älteren Kohlemeiler zur Einhaltung der Grenzwerte nachgerüstet würden, blieben sie jedoch nicht rentabel. Wirtschaftlich bleiben sie nur durch die ausbleibende Nachrüstung – und durch Steuererleichterungen, die in der Braunkohleindustrie auf 1,5 Milliarden Euro geschätzt werden.

Ein schneller Kohleausstieg dagegen birgt auch für die betroffenen Regionen Chancen. Wenn sich vor Ort die Stromerzeugung von der Braunkohle auf Erneuerbare Energien, Speichertechniken und Energiesparmaßnahmen verlagert, dann entstehen mehr Arbeitsplätze als verloren gehen. Die Energiewende im Ausland könnte ebenso an Fahrt aufnehmen, denn der billige Kohlestrom aus Deutschland verdrängte bislang die CO2-ärmeren Gaskraftwerke und verhinderte Investitionen in Erneuerbare Energien. Weniger Braunkohlestrom würde zwar an der Börse zu etwas höheren Strompreisen führen, durch die sinkenden Umlagen nach dem Gesetzt zur Förderung Erneuerbarer Energien hätte das jedoch keinen Effekt auf die Verbraucher. Lediglich die stromintensive Industrie müsste höhere Kosten hinnehmen, nachdem sie jahrelang von einem ständig sinkenden Strompreis profitierte.

Zweifellos kann der Strukturwandel nicht gegen die Zivilgesellschaft vor Ort durchgesetzt, sondern muss von ihr getragen werden. Unter diesem Vorzeichen haben unterschiedliche Initiativen im Rheinischen Revier gemeinsam ein zukunftsweisendes Konzept für ihren Lebensraum entwickelt, den sie ökologisch und sozial gerecht gestalten wollen. „Unser Ausgangspunkt ist ein gutes Leben für alle“, erläutert Andreas Büttgen von der Initiative Buirer für Buir. „Daraus entsteht dann auch gute Arbeit". Nicht Wachstum soll in dem entstandenen Leitbild die Maxime sein, sondern Lebensqualität. Vorgeschlagen wird eine Abkehr von boomenden Zentren, hin zu vielfältigen, dezentralen, eng miteinander vernetzten Einheiten nachhaltigen Wirtschaftens. Wohn- und Arbeitswelt sollen zusammen rücken, um Wege zu verkürzen. Das Konzept sieht zudem vor, größere Flächen zuerst Naturräumen und ökologischer Landwirtschaft vorzubehalten, während sich neue Betriebe auf alten Gewerbeflächen ansiedeln können. Wie Büttgen betont, darf eines in diesem Zukunftsbild nicht fehlen: echte Bürgerbeteiligung.

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