Am Sonntag wird etwas stattfinden, was in der Geschichte der Anti-Atom-Bewegung noch nicht vorgekommen ist: Aus Protest gegen den Weiterbetrieb der gefährlichen Reaktoren in Belgien soll sich über zwei Grenzen hinweg eine 90 km lange Menschenkette von Tihange über Maastricht in den Niederlanden bis nach Aachen bilden, dabei wird es auch darum gehen, den Schulterschluss zwischen Atomkraftgegnern aus Deutschland und den Beneluxländern zu demonstrieren. Eines ist allerdings jetzt schon klar: Nur durch eine sehr große deutsche Beteiligung an der Menschenkette kann dieses ehrgeizige Projekt gelingen, dessen zentrale Organisation in Aachen zusammenläuft. Die zaghafte, aber ständig wachsende belgische Anti-Atom-Bewegung ist froh über die Unterstützung aus dem Nachbarland, denn in Belgien ist der Protest gegen die Atomkraft bisher noch nicht in der breiten Bevölkerung verankert.
Was aus deutscher Sicht völlig unverständlich ist: In Belgien teilt man kaum die Angst vor einem Super-GAU. Dass der Weiterbetrieb der beiden besonders riskanten Reaktoren Tihange 2 und Doel 3, in deren Druckbehältern Tausende von Rissen festgestellt wurden, in Deutschland als Skandal empfunden wird, kümmert ganz offensichtlich weder den Atomkonzern Engi-Elecrabel, noch die Atomaufsicht FANC, noch die belgische Regierung. Laut einer offiziellen Statistik befürworten 50 Prozent der belgischen Bevölkerung die Nutzung der Atomenergie. Doch auch Menschen, die ihr skeptisch gegenüberstehen, glauben, man könne eben nicht so schnell auf Atomstrom verzichten. Sie mögen die Stilllegung der beiden „Bröckelreaktoren“ noch für realistisch halten, nicht jedoch ein zügiges Abschalten aller sieben Atommeiler, davon drei in Tihange und vier in Doel. Allgemein befürchtet man Versorgungslücken und steigende Strompreise.
Ungenutztes Ausstiegspotential
Ein Faktencheck ist also mehr als überfällig. Wie schnell oder wie langsam kann und muss sich der belgische Atomausstieg vollziehen? Mit dieser Fragestellung befasst sich eine Studie, die vom nordrhein-westfälischen Umweltministerium in Auftrag gegeben und Ende 2016 veröffentlicht wurde.
Lässt man das Fazit der Studie unhinterfragt, ist es für Atomkraftgegner durchaus ernüchternd: Unter dem Aspekt einer sicheren Stromversorgung könne man Tihange 2 und Doel 3 erst im Jahr 2020 außer Betrieb nehmen, allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen. Eine davon sei die Fertigstellung der Übertragungsleitung zwischen Deutschland und Belgien. Dass die vorübergehende Stilllegung der beiden Meiler kein einziges Mal in den 21 Monaten zu Versorgungsengpässen führte, ist nach Ansicht der Autoren ein Glücksfall. Bei extremeren Bedingungen wie beispielsweise einem besonders harten Winter verbunden mit unerwarteten Ausfällen hätte man mit Engpässen rechnen müssen. Ein vollständiger Atomausstieg ist laut Studie frühestens 2025 ohne Probleme umsetzbar, 2020 sei er nur unter großen Anstrengungen möglich – mit Hilfe erheblicher „Gegenmaßnahmen".
Bei genauerem Hinsehen ist das Gutachten allerdings wenig überzeugend. Es lenkt davon ab, dass rein technisch gesehen ein sofortiger und kompletter Atomausstieg in Belgien möglich wäre, auch ohne zusätzlich Übertragungsnetze. Mit dem notwendigen politischen Willen könnte man innerhalb kürzester Zeit Rahmenbedingungen schaffen, mit denen Gaskraftwerke wieder rentabler, große Batteriespeicher gefördert und Energiesparpotentiale ausgeschöpft würden. Vor allem das sogenannte Lastmanagement – eine energiewirtschaftlich sehr hilfreiches Instrument – ließe sich problemlos ausbauen. Dabei wird mit bestimmten Firmen vertraglich vereinbart, dass in Stunden hohen Energieverbrauchs die Stromlieferungen ausgesetzt werden können. Darüber hinaus wird durch Maßnahmen das Netz entlastet.
Ebenfalls wirksam wäre die Reaktivierung des modernen Gaskraftwerks „Claus C", das auf niederländischer Seite nah der Grenze zu Belgien liegt und mit seiner enormen Kapazität ohne Weiteres Tihange 2 sofort ersetzen könnte. Aus wirtschaftlichen Gründen steht es seit Jahren still. Auch der Beitrag Erneuerbarer Energien könnte in Belgien durch einfache Fördermittel wieder gesteigert werden.
Mit einem Wort: Das Potential für einem zügigen Atomausstieg liegt im Moment brach – vor allem wegen schlechter wirtschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen.
Darüber hinaus vermittelt die Studie den Eindruck, als könne man in der jetzigen Lage nicht einmal auf die Rissereaktoren Tihange 2 und Doel 3 verzichten. Die Berechnungen dazu beruhen jedoch auf falschen Prämissen. So wird z.B. angenommen, dass die belgischen Atommeiler relativ zuverlässig Strom liefern und generell zur Versorgungssicherheit beitragen. Ausgedrückt findet man dies in einer erstaunlich niedrigen Ausfallrate, die der Realität so gar nicht entspricht. Angesichts der zahlreichen, in den letzten Jahren sogar vermehrt auftretenden Pannen in belgischen Meilern erscheint dieses Kriterium geradezu absurd.
Natürlich tragen sieben Atommeiler zu einer größeren Versorgungssicherheit bei als nur fünf oder drei Meiler in Betrieb. Doch die Lücke könnte schnell durch andere stromerzeugende Einheiten sowie durch die Reduzierung des Verbrauchs geschlossen werden.
Die Frage nach den Kosten ist damit noch nicht beantwortet. Für Belgien gilt jedoch die gleiche Faustregel, wie für alle Industrieländer mit Atomkraft: Ein Umstieg vom alten, zentral gesteuerten auf das neue, dezentrale Energiesystem ist mit Kosten verbunden, und diese fallen umso geringer aus, je schneller sich die Wende vollzieht. Je früher ein Land außerdem damit beginnt, desto geringer sind die Schäden und Folgekosten der Atomkraft, die zum allergrößten Teil von Staat und Gesellschaft getragen werden.
In Deutschland kann man zur Zeit beobachten, was passiert, wenn der Umstieg verschleppt wird.Der sogenannte Atomausstieg wurde zur Hälfte schnell vollzogen, die andere Hälfte wird aber auf die lange Bank geschoben. Überflüssiger Atom- und Kohlestrom verstopft die Netze und verdrängt auch moderne Gaskraftwerke, die wegen ihrer Flexibilität übergangsweise gebraucht werden. Potentiale zur Energieeffizienz und -einsparung bleiben ungenutzt. Windräder werden immer häufiger abgeregelt, der Zubau erneuerbarer Energien wurde ausgebremst, und es fehlt ein längst überfälliges, flächendeckendes Speicherkonzept. All das steigert am Ende die volkswirtschaftlichen Kosten genauso wie die irreparablen Schäden.
Der greifbare Super-GAU
Belgien könnte diese deutschen Fehler vermeiden, es könnte die Chance ergreifen und innerhalb kürzester Zeit eine energiepolitische Kehrtwende vollziehen. Es würde Europa damit einen großen Dienst erweisen. Angesichts der ungeheuren, nicht auszudenkenden Folgen eines Super-GAU in Tihange oder Doel müssen solche Fragen wie die nach der Versorgungssicherheit und den Kosten bedeutungslos erscheinen. Und wenn in den Reaktordruckbehältern der umstrittenen Meiler immer wieder neue Risse gefunden werden, die man in Belgien zu verharmlosen sucht, dann ist ein schwerwiegender Atomunfall nicht mehr im Bereich des nur theoretisch Denkbaren, sondern wird zu etwas Greifbarem. Nach belgischer Rechtslage müssten die Atommeiler Tihange 2 und Doel 3 spätestens im Jahr 2022 außer Betrieb gesetzt werden, denn dann haben sie ihre maximale Laufzeit von 40 Jahren erreicht. Nun hat der Betreiber der beiden AKW in einem Interview mit der Aachener Zeitung angekündigt, er könne sich für sie auch eine Laufzeitverlängerung über 2022 hinaus vorstellen.
Wolfgang Renneberg, der frühere Leiter der deutschen Atomaufsicht, fand in einer neulich veröffentlichten Stellungnahme deutliche Worte für den Zustand der maroden belgischen Reaktoren: „Es handelt sich in diesem Fall nicht um die Auseinandersetzung über eine abstrakte Einschätzung des grundsätzlichen Risikos von Atomunfällen (…) Es handelt sich um einen Fall, in dem es um ganz konkrete und massive Sicherheitsbedenken im sicherheitsrelevantesten Bereich von Kernreaktoren geht.“
Es geht, um es kurz zu sagen, um unser aller Leben und Gesundheit.
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