Russland/Ukraine: „Wenn morgen die Waffen schweigen, ist damit noch kein Konflikt gelöst“
Interview An Verhandlungen führt nie ein Weg vorbei, sagt der Konfliktforscher Markus Weingardt. Aber wann und wie können sie gelingen und nachhaltig Frieden bringen? Ein Gespräch über glaubwürdige, allparteiliche Vermittler und das Beispiel Mosambik
der Freitag: Herr Weingart, ein Ende des Krieges in der Ukraine ist nicht in Sicht. Warum ist das aus Ihrer Sicht so?
Markus Weingardt: Beide Kriegsparteien setzen bislang noch auf einen militärischen Sieg, und weder in West noch in Ost gibt es erkennbare Bemühungen, auf ein rasches Ende der Kampfhandlungen und auf Verhandlungen hinzuwirken. Insofern verpassen bislang alle relevanten Akteure die Chance, zu einem baldigen Frieden beizutragen.
Wollen einige Länder nicht erkennbar ein schnelles Ende des Krieges? Was ist mit China?
Es ist ja unstrittig, dass gerade China Möglichkeiten hätte, Druck auszuüben und deeskalierend auf Russland einzuwirken. Aber das findet, was man so erfährt, nicht statt. Andererseits hat beispielsweise die Türkei beim Getreide-A
auf Russland einzuwirken. Aber das findet, was man so erfährt, nicht statt. Andererseits hat beispielsweise die Türkei beim Getreide-Abkommen gezeigt, dass sie vermitteln kann. Solche „Übungsfelder“ für Vermittler und Konfliktparteien gilt es, auf andere Bereiche auszuweiten – so wie das beim Gefangenenaustausch und in Gesprächen zu Saporischschja schon geschehen ist.Wie könnte die Bundesregierung zum Frieden beitragen?Sie könnte stärker darauf hinwirken, Gespräche aufzunehmen, Positionen auszuloten, Voraussetzungen für Verhandlungen zu diskutieren. Aber die Einsicht dafür fehlt. Deutschland wie auch andere Länder haben sich auf die Kriegsstrategie der Ukraine eingelassen – oft mit dem Argument, man könne ihr keine Verhandlungen aufzwingen. Aber es geht hier nicht um Zwang. Man kann Kriegsparteien davon überzeugen, dass es Sinn macht und vernünftig ist, zu verhandeln. Es ist interessant, dass selbst Wolfgang Ischinger, der frühere Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, der in seinem eigenen Selbstverständnis sicher kein Pazifist ist, vehement mehr Anstrengungen für Gespräche fordert. Verhandlungen aufzunehmen, ist weder ein Zeichen von Schwäche noch irgendein Zugeständnis. Es ist einfach das Bemühen, Konflikte anders als auf dem Schlachtfeld zu lösen.Es heißt ja immer, Friedensverhandlungen seien erst sinnvoll, wenn die Ukraine militärisch in einer guten Position ist.Ich halte das nicht für realistisch, denn wenn die Ukraine in einer guten Position ist, ist Russland in einer schlechten. Es ist nicht wahrscheinlich, dass sich der Kreml dann eher auf Verhandlungen einlassen würde. Er würde vielmehr versuchen, sich militärisch seinerseits wieder in eine bessere Verhandlungsposition zu bringen, was dann wiederum bedeutet, dass die Ukraine schlechter dasteht. Und so geht dieses Hin und Her immer weiter. Der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg war das beste Beispiel für dieses grausame „Spiel“.Musste man die Ukraine nicht in die Lage versetzen, sich zu verteidigen?Vielen geht es darum, die Kosten des Krieges für Russland hochzutreiben und so die Ukraine in eine bessere Position zu bringen. Doch das erreicht man nicht nur durch militärische, sondern ebenso durch zivile, gewaltlose Gegenwehr. Man kann dem Gegner durch verschiedene Maßnahmen gewaltlosen Widerstands deutlich machen, dass er nicht erwünscht ist und man seine Herrschaft niemals hinnehmen wird.Wie kann man sich das vorstellen? Welche Maßnahmen sind das?Ziviler, gewaltloser Widerstand umfasst eine unglaubliche Bandbreite an Maßnahmen. Massendemonstrationen, Proteste oder Informations- und Öffentlichkeitsarbeit. Oder Sabotageakte, wie zu Beginn des Krieges in der Ukraine, als man Bahngleise für den militärischen Nachschub zerstörte. Oder dass man Parallelstrukturen zu denen des Besatzers aufbaut – von der Bildung über die Lebensmittelversorgung bis hin zum Gesundheits- oder Steuersystem. Für all das gibt es schon erfolgreiche Beispiele in der Geschichte! Ein so großes Volk kann nicht auf Dauer durch eine Besatzung beherrscht werden. Es braucht Menschen vor Ort, die ein System mit am Leben erhalten. Wenn sich aber Menschen massenhaft dieser Zusammenarbeit verweigern, dann bekommen auch die strengsten Regime Schwierigkeiten. Als die Nazis versuchten, die norwegische Lehrerschaft auf Linie zu bringen, hat sich diese kollektiv geweigert, die Nazi-Doktrin zu lehren. Zu Anfang gab es auch Opfer, Menschen kamen ins KZ. Aber irgendwann erkannten die Nazis, dass sie das nicht durchsetzen können, und gaben auf. Ziviler, gewaltloser Widerstand ist erstaunlicherweise auch doppelt so erfolgreich wie gewaltsamer Widerstand. Er bringt naturgemäß sehr viel weniger Todesopfer mit sich, weniger Zerstörung von Städten und Infrastruktur, birgt viel höhere Chancen auf wirkliche Demokratisierung und führt überdies schneller zum Erfolg. Das ergab eine wissenschaftliche Studie der Harvard-Professorin Erica Chenoweth zusammen mit Maria Stephan. Sie untersuchten über 300 Konflikte aus mehr als 100 Jahren bis 2006, wobei sie die Effekte von gewaltsamem und gewaltlosem Widerstand miteinander verglichen.Können Sie ein paar Beispiele nennen?Für uns naheliegend ist natürlich die friedliche Wende in der DDR. Niemand hätte gedacht, dass sich an diesem eingefahrenen und verfestigten Konflikt etwas ändern könnte. Und doch war es die Zivilgesellschaft, die ohne Gewalt diesen Systemumbruch herbeiführte. Oder im Bürgerkrieg in Mosambik in den 1980er Jahren, in dem sich die marxistisch-leninistische Regierungsseite und -armee FRELIMO und die von Südafrika unterstützte Widerstandsbewegung RENAMO gegenüberstanden. Nachdem verschiedene politische Akteure bis hin zur UNO mit ihren Vermittlungsversuchen gescheitert waren, gelang es einem zivilgesellschaftlicher Akteur, in dem Fall der katholischen Laiengemeinschaft Sant'Egidio, einen Friedensvertrag zu vermitteln. Und zwar im Zenit des Bürgerkrieges, als beide Parteien zunächst noch keineswegs zu Verhandlungen bereit waren! Oder der Sturz des philippinischen Diktators Marcos Mitte der 1980er Jahre: Eine gewaltlose Massenbewegung brachte ihn zu Fall.Gab es in der Ukraine Ansätze von gewaltlosem Widerstand?Erst vor wenigen Monaten wurde eine Studie von Professor Felip Daza Sierra veröffentlicht, der allein in den ersten sechs Monaten des Krieges über 230 Beispiele zivilen, gewaltlosen Widerstands in der Ukraine zusammentrug – von Einzelaktionen über Blockaden bis zu Massenprotesten. Und 2015 ergab eine Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie, dass sich erstaunliche 29 Prozent im Falle einer ausländischen, sprich russischen Invasion einem zivilen, gewaltlosen Widerstand anschließen würden. Mehr als die etwa 24 Prozent, die bewaffneten Widerstand leisten wollten. Das war 2015, also nach der Krim-Besetzung, als die Menschen in der Ukraine schon sehr genau wussten, was Besatzung und Krieg bedeutet. Ein Großteil der Befragten gab übrigens an, nichts tun oder fliehen zu wollen. Es gibt also auch Männer, die nicht kämpfen wollen. Nur, in der Ukraine ist wie in Russland das Recht auf Verweigerung des Kriegsdienstes – ein Menschenrecht! – ausgesetzt.Placeholder infobox-1 Ich war ja ganz erstaunt, als ich in einer Erklärung der Ukrainischen Pazifistischen Union Folgendes las: „Selbstverteidigung kann und sollte mit gewaltfreien und unbewaffneten Methoden erfolgen“ und „Niemand kann sich der Verantwortung für sein eigenes Fehlverhalten entziehen, indem er sich darauf beruft, Opfer des Fehlverhaltens anderer zu sein“. Wie einflussreich sind solche Stimmen überhaupt?Zunächst einmal: Das ist kein – wie manche hierzulande sagen – „Sofa-Pazifismus“. Diese Pazifisten sitzen mitten im Kriegsgebiet. Sie und ihre Familien sind Opfer des Krieges. Und sie vertreten trotzdem eine Haltung der Gewaltfreiheit. Das finde ich unglaublich mutig und aufrecht, standhaft. Sicherlich werden sie auch angefeindet. Dennoch glaube ich, solche wichtigen Stimmen werden auch gehört.Gibt es denn Grenzen des gewaltlosen Widerstands? Ist er angesichts solcher Massaker wie in Butscha nicht auf verlorenem Posten?Nun, auch gewaltfreier Widerstand fordert Opfer – wenngleich viel weniger als gewaltsamer Widerstand. Hinzu kommt: Gerade die Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten waren zu allen Zeiten und in allen möglichen Systemen die ersten Opfer der staatlichen Verfolgung und Unterdrückung, weil die Verweigerung der Gewalt als staats- oder ideologiezersetzend und somit als gefährlich galt. Außerdem denken viele, gewaltlose Konfliktbearbeitung – und der Widerstand ist nur ein Teil davon – sei eine Art Feuerlöscher, der eingesetzt wird, wenn das Haus lichterloh brennt. Und dann heißt es: „Wenn hier das ganze Stadtviertel brennt, dann fange ich mit einem kleinen Feuerlöscher nichts mehr an.“ Das ist aber kein Argument gegen gewaltlose Konfliktbearbeitung, weil die eigentlich mit der Krisenprävention beginnt. Diese wird aber regelmäßig, auch im Ukraine-Konflikt, sträflich vernachlässigt. Man wartet allzu oft, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist und dann ist der Aufschrei groß. Und schließlich, so zynisch das klingen mag: Solche furchtbaren Massaker wie in Butscha, genauso wie Vergewaltigungen, Folter, Angriffe auf Zivilbevölkerung, sinnlose Zerstörung von Infrastruktur, sind keine punktuellen Exzesse im Krieg, keine „Ausrutscher“, sondern schon seit Urzeiten bewusst eingesetzte Elemente der Kriegsführung, schon immer. Es gibt keinen einzigen Krieg, in dem die Menschenrechte gewahrt worden wären. Gerade deshalb muss alles getan werden, um den Krieg und die Kämpfe schnellstmöglich zu beenden.Wer eignet sich denn am ehesten als Vermittler*in? Als Friedensforscher haben Sie herausgearbeitet, dass religiöse Akteure oft eine entscheidende friedensstiftende Rolle spielen. Warum ist das so?Alle Arten von Vermittler sollten natürlich fachkompetent und glaubwürdig sein, eine gewisse Verbundenheit zu den Betroffenen haben und das Vertrauen beider Konfliktparteien genießen. Politische Akteure oder NGOs sind nicht selten mit Skepsis konfrontiert, denn die Konfliktparteien fragen sich natürlich: Wo kommt dieser Akteur her, wer finanziert ihn? Wo war er in den vergangenen Jahren, als es hier schon gebrannt hat? Religiöse Akteure dagegen genießen oft einen Vertrauensvorschuss, einen Bonus, auch über religiöse, kulturelle, ethnische oder nationale Grenzen hinweg. Das kann erstaunen, weil durch andere religiöse Akteure bekanntlich auch viel Unheil angerichtet wird. Dennoch gelten religiöse Akteure in der Regel als uneigennützig und ehrlich, als kompetenter, wenn es um Schuld, Trauer oder Verletztheit geht. Ihre Motivation, Frieden zu stiften, ist nachvollziehbar, und ganz wichtig: Sie sind ungefährlich! Denn sie arbeiten nicht mit Druck oder Zwang, sondern nur mittels ihrer Überzeugungskraft, durch Wort und Tat.Was würden Sie Personen, die sich um Verhandlungen bemühen, generell raten? Welche Haltung sollten sie einnehmen?Wichtige Voraussetzung ist eine sogenannte Allparteilichkeit, dass man also glaubhaft vermittelt, das Beste für beide Seiten erreichen zu wollen. Man sollte sich zudem von schnellen und einfachen Lösungen verabschieden. Ich habe das Beispiel Mosambik genannt. Die Verhandlungen dort dauerten zwei Jahre, in denen der Bürgerkrieg mit unverminderter Härte weiterging und sich alle Kritiker dieser Verhandlungen schon bestätigt sahen. Diese fortzuführen, war nicht leicht, auch nicht für die Vermittler Sant'Egidio und Bischof Gonçalves. Aber es hat sich gelohnt. Es hat einen Krieg mit Millionen von Opfern stabil beigelegt, für viele Jahrzehnte jetzt schon. Und ein wesentliches Element dieser Vermittlung war, dass man die Konfliktparteien weder zeitlich noch inhaltlich unter Druck setzte und keine Lösungen überstülpte. Man kann Vertrauen nicht erzwingen, nicht verordnen. Es braucht Zeit. Sonst wird die Lösung nicht nachhaltig, nicht stabil sein.Konflikte sind sicher auch vielschichtig. Wo fängt man da an? Ja, kein politischer Konflikt ist unkompliziert oder hat nur eine Ursache, erst recht nicht der zwischen Russland und der Ukraine. Eine Vielzahl unterschiedlicher Konflikte spielen dabei eine Rolle, außen- und sicherheitspolitische, wirtschaftliche, geo- und militärstrategische, ideologische und nicht zuletzt auch kulturelle oder innenpolitische Aspekte. Wobei: Keiner dieser Konflikte rechtfertigt einen Krieg! Das ist eine wichtige Unterscheidung, die in den Debatten viel zu wenig vorgenommen wurde: Die Verantwortlichkeit für den Krieg liegt nur auf einer Seite, bei Wladimir Putin. Die zugrundeliegenden, länger andauernden Konflikte haben dagegen viel mehr Player und Verantwortliche – auch den Westen, China und andere. Gerade wegen dieser Vielschichtigkeit gibt es eben keine einfachen Lösungen. Am allerwenigsten gibt es sie auf dem Schlachtfeld. Es führt kein Weg an Verhandlungen vorbei. Selbst wenn morgen die Waffen schweigen, haben wir damit noch keinen einzigen der Konflikte gelöst. Wenn das nicht geschieht, und zwar durch Verhandlungen, werden sie weiter schwelen, bis sie früher oder später wieder gewaltsam eskalieren. Wie so oft in der Geschichte zu beobachten.Der Überfall Russlands auf die Ukraine war ein Schock für die ganze Welt. Wie geht man in Verhandlungen damit um? Wie kann man für jemanden wie Putin Verständnis entwickeln?Verständnis von etwas zu haben, heißt nicht, Verständnis für etwas zu haben. Es ist ein gewisses Paradox, dass „Putinversteher“ als Schimpfwort gilt und gleichzeitig die Experten alle darum ringen, Putin endlich zu verstehen. Wenn ich mit jemandem reden oder vermitteln will, muss ich verstehen, was seine Beweggründe und Motive, was seine Ziele sind. Aber das heißt nicht, dass ich dafür Verständnis habe, das gutheiße oder auch nur akzeptiere.Muss man Wladimir Putins Drohung, Atomwaffen einzusetzen, ernst nehmen? Viele sagen ja, er blufft. Wie schätzen Sie die Gefahr einer nuklearen Eskalation ein?Das ist nach wie vor mittelfristig die größte Gefahr. Wir wissen nicht, was passiert, wenn Putin in die Enge getrieben wird, wenn sich beispielsweise die Ukraine anschickt, die Krim zurückzuerobern. Darauf zu setzen, dass er blufft, ist ein hochriskantes Spiel. Die längerfristige Gefahr ist ein nachhaltiger und weltweiter Rückfall in die dunkelsten Zeiten des Kalten Krieges, mit Polarisierung und Blockbildung, mit noch mehr Hochrüstung und damit einhergehender Eskalationsgefahr, mit Spannungen und Stellvertreterkriegen. Es droht ein massiver Rückfall in die Logik der Gewalt. Weil dadurch an anderer Stelle Gelder wie auch gemeinsame internationale Anstrengungen fehlen, droht außerdem eine Zunahme der Klimaerhitzung und des weltweiten Hungers mit Flucht, Elend und Gewalt.Gibt es die Chance, das Ruder in die andere Richtung herumzureißen?Wenn es die Chance nicht gäbe, dann bräuchten wir uns hier nicht zu unterhalten. Ich habe die Hoffnung, dass eine Überwindung der Gewalt- und Konfliktlogik möglich ist. Das klingt heute utopisch. Aber die Ächtung von Sklavenarbeit, die Verwirklichung von Menschenrechten und Frauenrechten oder der Traum vom Fliegen galten Jahrtausende lang auch als utopisch. Heute sind sie zumindest hierzulande selbstverständlich. Aber das waren keine Selbstläufer. Sie wurden verwirklicht, weil sich viele Menschen mit viel Mut, Beharrlichkeit und Kreativität dafür einsetzten. Auch Frieden ist kein Selbstläufer, auch kein Zustand, den man einmal erreicht und dann für alle Zeiten hat. Er bleibt immer ein Prozess, eine Herausforderung, eine permanente Aufgabe.