Schon lange ist bekannt, dass der Betrieb überalterter Atomkraftwerke mit einem besonderen Risiko verbunden ist. Doch zehn Jahre nach Fukushima werden warnende Stimmen kaum noch wahrgenommen. Dabei sind sie nötiger denn je.
„Eine neue Ära des Risikos“ – so nennt die Umweltschutzorganisation Greenpeace unsere Gegenwart, da zwei Drittel aller weltweit im Betrieb befindlichen Atomreaktoren über 30 Jahre alt sind. 93 der alten Meiler stehen allein in Westeuropa. 16 davon haben das Alter von 40 Jahren überschritten. Das besondere Risiko der Altmeiler liegt in einer Kombination aus Materialversprödung, veraltetem Design, einer nachlassenden Sicherheitskultur und dem Risiko, dass unvorhergesehene Fehler oder Zwischenfälle gleichzeitig passieren, ineinandergreifen und sich gegenseitig verstärkend zu einem Super-GAU führen können. Die Unfälle von Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima sind warnende Beispiele dafür. Je mehr Fehlerquellen in einem Reaktor schlummern oder von außerhalb drohen, etwa durch Erdbeben oder einen Flugzeugabsturz, und je weniger das Sicherheitssystem auf bestimmte Unfallszenarien eingestellt ist, desto gefährlicher ist der Betrieb eines AKW. Das Alter verstärkt die meisten dieser Faktoren noch.
Lieferungen aus Lingen
Man könnte meinen, spätestens in knapp zwei Jahren, wenn die letzten deutschen Atommeiler vom Netz gehen, sei das Thema für uns erledigt. Weit gefehlt: Eine Havarie in einem der Nachbarländer würde natürlich auch Deutschland betreffen. Unfallszenarien zeigen eindrucksvoll, dass ein Super-GAU in der Schweiz, Frankreich und Belgien mit hoher Wahrscheinlichkeit auch weite Teile der Bundesrepublik radioaktiv verseuchen würde. Ausgerechnet diese Länder werden aus Deutschland mit Brennelementen beliefert.
Bis vor Kurzem konnte sich die Betreiberin der Brennelementefabrik im emsländischen Lingen – ANF, eine Tochterfirma der EdF-Tochter Framatome – sicher sein, dass Behörden und Politik sie weiter gewähren lassen. Die Firma blieb vom „Atomausstieg“ unberührt, ihre Betriebsdauer wurde nicht beschränkt und seit jeher genehmigt das dem Bundeswirtschaftsministerium unterstellte Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) Brennstoff-Exporte an Atomkraftwerke ohne inhaltliche Prüfung. Trotz jahrelanger Proteste, juristischer Einwände sowie Anträgen von Grünen und Linken hielt das BAFA an dieser Praxis fest; auch das SPD-geführte Bundesumweltministerium (BMU), in dem Fall weisungsbefugt, wollte nicht einschreiten. Es schätzt die belieferten Uraltreaktoren zwar ebenfalls als hochriskant ein, versuchte eine Schließung der beiden deutschen Atomfabriken, einschließlich der Urananreicherungsanlage im münsterländischen Gronau, herbeizuführen und ein Verbot von Brennelementexporten zu grenznahen Reaktoren, die vor 1989 ans Netz gingen, im Atomgesetz zu verankern. Aber die Vorschläge hatten – wenig überraschend – in der großen Koalition keine Chance.
Im Laufe des vergangenen Jahres jedoch drehte sich der Wind – die Justiz kam ins Spiel. Auf einmal stand auch vor Gericht in Frage, ob die Exporte und deren Genehmigungen überhaupt mit dem Atomgesetz vereinbar seien. Daraufhin leistete sich die Atomfirma etwas, das der BUND als „ungeheuerlichen Rechtsbruch“ sieht. Das Vorgehen empört nicht nur Atomkraftgegner*innen, sondern auch das BMU. Noch während laufender Verfahren schickte die Firma in sechs Transporten Brennelemente nach Leibstadt in der Schweiz sowie nach Doel in Belgien, obwohl die Ausfuhrgenehmigungen durch Widersprüche des Bundes für Natur und Umweltschutz (BUND) außer Kraft gesetzt waren und bis heute sind. Wie konnte es dazu kommen?
Im April hatten Aktivisten aus vier Anti-Atom-Initiativen Widerspruch gegen die Genehmigung des Exportes von Brennelementen ins belgische Doel eingelegt. Es folgte im August die Klage eines Aacheners, woraufhin ANF versuchte, mit einem Eilverfahren die aufschiebende Wirkung der Klage aufheben zu lassen. Doch das Verwaltungsgericht Frankfurt/Main lehnte dies im Oktober ab. Es führte mehrere Gründe dafür auf, dass nach dem Atomgesetz die 46 Jahre alten Meiler nicht aus Deutschland beliefert werden dürfen. Das 2019 vom Europäischen Gerichtshof gefällte Urteil, wonach der Betrieb der beiden Meiler rechtswidrig sei, gehe vor allem auf Sicherheitsbedenken zurück. Die Stromversorgung in Belgien sei ohne die Reaktoren nicht gefährdet, womit die Eilbedürftigkeit der Lieferung wegfalle. Ob die Klage des Aacheners tatsächlich begründet sei, ließ das Gericht offen. Darüber müsse im Hauptsacheverfahren entschieden werden.
Einige Wochen später wurde dieser Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Kassel in zweiter und letzter Instanz zwar wieder gekippt, allerdings nur aus formalen, nicht aus inhaltlichen Gründen: Aus dem Atomgesetz ließe sich keine Klagebefugnis für Privatpersonen ableiten. Die juristischen Möglichkeiten für Umweltverbände blieben damit jedoch unberührt. So spielte der BUND im weiteren Verlauf eine entscheidende Rolle.
Im September erteilte das BAFA eine neue Ausfuhrgenehmigung für Brennelemente von Lingen nach Leibstadt. Der dortige Siedewasserreaktor, kaum 200 Meter von der deutschen Grenze entfernt, ist mit 36 Jahren Betriebsdauer zwar der jüngste der Schweizer Atommeiler, deswegen aber nicht weniger gefährlich. In letzter Zeit wurde seine Leistung mehrmals erhöht, das Material somit stärker beansprucht – wie auch die steigende Anzahl von Störfällen zeigt. Zudem wurden 2019 die Sicherheitsbestimmungen gelockert.
Die Behörde reagiert erst spät
Bald nachdem der BUND-Landesverband Baden-Württemberg Widerspruch gegen die Ausfuhrgenehmigung eingelegt hatte, landete auch dieser Fall – auf Antrag von ANF – vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt. Wegen angeblichen Eilbedarfs rangen die Anwälte von ANF dem Gericht das Versprechen ab, bis Mitte Januar zu entscheiden. Dass der Widerspruch bis dahin aufschiebende Wirkung entfalten würde, stand außer Frage. Als die Firma trotzdem am 14. und 28. Dezember nach Leibstadt transportieren ließ, tat sie dies ohne rechtliche Grundlage. Und obwohl das BAFA auf Geheiß des BMU die Staatsanwaltschaft einschaltete, wurde ANF im neuen Jahr zum Wiederholungstäter. Zwischenzeitlich hatte nämlich der BUND in Nordrhein-Westfalen durch seinen Widerspruch gegen die entsprechende Genehmigung den Export nach Doel wieder blockiert. Mitte Januar wurde die Firma vom BAFA darüber informiert – drei Tage später begann die Serie der vier illegalen Brennelemente-Transporte nach Doel.
Die Behörde mag daran nicht ganz unschuldig gewesen sein, da sie zuweilen verzögert reagierte. Der BUND in NRW stellte nicht nur Strafanzeige gegen die Verantwortlichen von ANF, sondern auch gegen den Präsidenten des BAFA. Atomkraftgegner aus Münster und Lingen fordern indes vom BMU, dem BAFA die Aufsichts- und Genehmigungs-Kompetenzen zu entziehen. Mittlerweile sind Staatsanwaltschaften in drei verschiedenen Bundesländern mit dem Fall beschäftigt. War es ein kalkulierter Rechtsbruch, den ANF begangen hat? Wenn ja, dann könnte sich die Firma verzockt haben. Denn ihre Zuverlässigkeit, die jetzt in Zweifel steht, ist eine der Voraussetzungen sowohl für Ausfuhrgenehmigungen als auch für ihren Betrieb.
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