Wir brauchen die Atomkraft nicht – auch nicht in dieser Energiekrise

Uran Keine Laufzeitverlängerung, kein Streckbetrieb und nicht mal eine Atomkraft-Notreserve sind notwendig, um der Krise angemessen zu begegnen. Das zeigt ein genauer Blick auf den zweiten Stresstest
Zwei, die sich für die Laufzeitverlängerung stark machen: Friedrich Merz und Markus Söder
Zwei, die sich für die Laufzeitverlängerung stark machen: Friedrich Merz und Markus Söder

Foto: Lennart Preiss/Getty Images

Keine Debatte werde so faktenfrei geführt wie die um eine Laufzeitverlängerungen der Atomkraftwerke, so brachte es Britta Haßelmann, Bundesfraktionsvorsitzende der Grünen, auf den Punkt. CDU-Chef Friedrich Merz jedenfalls lässt keine Gelegenheit aus, um zu behaupten, vor allem ein Weiterbetrieb der Atommeiler um drei bis fünf Jahre könne die gegenwärtige Energiekrise lösen. Ganz abgesehen von der Sicherheitsfrage, die in dieser Frage eigentlich an erster Stelle stehen müsste, lässt auch die Datenlage für den Strommarkt diesen Schluss nicht zu. Keine Laufzeitverlängerung, kein Streckbetrieb und nicht mal eine Atomkraft-Notreserve sind notwendig, um der Krise angemessen zu begegnen.

Um das zu verstehen, hilf ein genauerer Blick auf den kürzlich veröffentlichten zweiten Stresstest. Entscheidend sind dabei die getroffenen Annahmen für das extremste der drei Szenarien. Dass man hierbei vom Schlimmsten ausgeht, gehört zum Wesen eines Stresstests. So wird in dem Szenario angenommen, dass im Winter nur knapp zwei Drittel der französischen Atomreaktoren verfügbar sind, dass Steinkohlekraftwerke wegen Niedrigwassers der Flüsse weniger Brennstoff erhalten und somit weniger Strom produzieren, dass der Gaspreis auf 300 Euro pro Megawattstunde steigt und der Winter besonders kalt wird. All das sind nachvollziehbare Parameter.

Notfallplan: die letzte Stufe

Zu pessimistisch erscheint dagegen, dass die Hälfte aller Gaskraftwerke in Süddeutschland und Österreich nicht verfügbar sein sollen. Im Falle einer extremen Gasmangellage würde die letzte Stufe des Notfallplans greifen, wonach die Bundesnetzagentur das Gas rationiert. Besonders geschützt wären laut Plan nicht nur private Haushalte und sensible Infrastruktur, sondern auch ein Löwenteil der Gaskraftwerke, nämlich solche, die gleichzeitig Wärme produzieren. Brennstoff einzusparen wäre hier genauso unsinnig wie bei den gasbetriebenen Spitzenlastkraftwerken. Vor allem sie garantieren zur Zeit, dass der Strommarkt flexibel genug auf plötzliche Verbrauchsspitzen reagieren kann. Eine 80-prozentige Verfügbarkeit von Gaskraftwerken anzunehmen, ist deshalb nicht zu hoch gegriffen. Anders gesagt: Beim dritten Szenario fallen einige Gigawatt Stromerzeugung unter den Tisch.

Gleichzeitig wird die Spitzenlast zu hoch angesetzt, denn in angespannten Situationen führt ein steigender Börsenstrompreis bei einigen Unternehmen zeitweise zu einem niedrigeren Verbrauch. Dieser dämpfende Effekt ist im Stresstest ausdrücklich nicht berücksichtigt worden.

Doch selbst wenn man über diese Mängel hinwegsieht und das extremste Szenario als gegeben hinnimmt, erweisen sich die Atomkraftwerke im Ergebnis als nicht besonders hilfreich. Gas einsparen könnten sie gemessen am Gesamtverbrauch nur minimal, nämlich zu einem Promille. Auch ihr Beitrag bei Stromengpässen wäre äußerst begrenzt. Während des Winters 2022/2023 könnte im Extremfall und ohne flankierende Maßnahmen in drei bis zwölf Stunden die Stromnachfrage nicht gedeckt werden. Das ist verschwindend gering im Vergleich zu anderen Ländern. Nur in dreien dieser Stunden wäre die Stromlücke mit sieben bis acht Gigawatt sehr groß. Um Netzengpässe in Süddeutschland auszugleichen, könnte Atomstrom allerdings nur einen halben Gigawatt beisteuern, also nur sechs Prozent der dann benötigten Strommenge. Im Gegensatz dazu sind andere Mittel deutlich wirkungsvoller.

Gaskraftwerke in Süddeutschland

Möglichst viele Gaskraftwerke in Süddeutschland, auch die in der Reserve, für die kritischen Stunden zuverlässig einsatzbereit zu halten, ist die wichtigste Gegenmaßnahme – zusammen mit dem sogenannten Lastmanagement. Dabei werden Unternehmen gegen einen finanziellen Ausgleich vertraglich verpflichtet, bei extrem hohen Lasten vorübergehend keinen Strom zu beziehen. Mit der vollständigen Umsetzung nur dieser beiden Maßnahmen wäre das Engpass-Problem schon weitestgehend gelöst.

Die Übertragungsnetzbetreiber empfehlen darüber hinaus eine Regelung zur höheren Auslastung der Netze bei niedrigeren Temperaturen sowie eine insgesamt stärkere Nutzung von Biomasseanlagen und Kraftwerken in der Notreserve. Dass sie trotz allem den Eindruck erwecken, als sei ein Streckbetrieb der Atommeiler unabdingbar, bleibt ihr Geheimnis.

Auch das letzte Gegenargument, die angeblich preisdämpfende Wirkung von Atomstrom, ist fadenscheinig. Was die jetzige Preisspirale vor allem stoppen könnte, wäre eine Strompreisbremse sowie Eingriffe in den Markt, sprich eine Entkoppelung des Gaspreises vom Strompreis auf EU-Ebene. Beides versucht Wirtschaftsminister Robert Habeck nun auf den Weg zu bringen. Zwei weitere wichtige Maßnahmen geraten dagegen immer wieder in den Hintergrund: Eine erhöhte Produktion von billigem erneuerbaren Strom und das Einsparen von Energie. Hier gäbe es noch zahllose Stellschrauben, die die Regierung bisher ungenutzt ließ. Mit der Kürzung von Fördermitteln für die Wärmedämmung beschnitt sie sogar einen wichtigen Baustein für die Gaseinsparung.

Festzuhalten bleibt: Auf der Grundlage des Stresstests hätte Habeck ohne Weiteres entscheiden können, die Atomkraftwerke wie gesetzlich vorgesehen zum Jahresende abzuschalten. Dass er stattdessen angekündigt hat, zwei der Meiler als Notreserve vorzuhalten, mag ein Zugeständnis an die FDP sein. Damit hat er jedoch das Scheunentor für eine umso hitzigere Fortsetzung der faktenfreien Debatte weit geöffnet.

Die FDP, unfair und kontraproduktiv

Wäre die FDP ein fairer Koalitionspartner, hätte sie sich nach Habecks Vorschlägen vornehm zurückhalten müssen. Statt dessen drängt sie ganz in Wahlkampfmodus mit den immer gleichen Phrasen darauf, alle drei Atommeiler unverändert weiterlaufen zu lassen. Die genauen Ergebnisse des Stresstests scheint sie dabei zu ignorieren. Als Regierungspartei ist sie offenbar nicht gewillt, wirklich Regierungsverantwortung zu übernehmen. Denn zudem torpediert sie Maßnahmen, die die Krise tatsächlich abmildern würden.

Verkehrsminister Volker Wissing blockiert fast alles, was im Verkehrssektors CO2 und Energie einsparen könnte, womit er laut Deutscher Umwelthilfe gesetzeswidrig handelt. Und Finanzminister Christian Lindner brachte kürzlich einen verheerenden Gesetzentwurf zum sogenannten Spitzenausgleich ein, der 9.000 Unternehmen betrifft. Bisher konnten diese von der Stromsteuer befreit werden, sofern sie eine Steigerung ihrer Energieeffizienz nachwiesen. Das Gesetz, das dieses Jahr ausläuft, möchte Lindner nun verlängern – mit dem Unterschied jedoch, dass die Firmen den Effizienz-Nachweis nicht mehr erbringen müssen. Der Anreiz, weniger Energie zu verbrauchen, fiele damit weg, trotz Steuergeschenk.

Die Frage bleibt, warum Habeck am Plan der Notreserve und nicht am konsequenten Atomausstieg festhält. Falls er einen gravierenden Ausfall französischer Atomkraftwerke im Winter fürchtet, hat er zwei Dinge nicht bedacht: Erstens ist die Strommenge, die Deutschland exportieren kann, durch die Leitungskapazitäten begrenzt. Wäre die Situation im Nachbarland noch knapper als im dritten Szenario simuliert, würde trotzdem nicht mehr Strom aus Deutschland abfließen. Zweitens wäre es grob fahrlässig und gesetzeswidrig, genau die Sicherheitsüberprüfung weiterhin auszusetzen, durch welche in Frankreichs Reaktoren überhaupt erst gefährliche Risse entdeckt wurden. Dass in den deutschen Meilern bei weitem nicht alles in Ordnung ist, zeigen die über 300 Korrosionsrisse in einer sicherheitsrelevanten Komponente in Neckarwestheim.

In Paris eine hohe Verfügbarkeit der Reaktorflotte anzumahnen, ist also unnötig. Es ist außerdem gefährlich, denn die dortige Regierung hat den Betreiber EDF nun angewiesen, trotz der gravierenden, nicht so schnell zu behebenden Schäden alle Meiler bis zum Winter wieder hochzufahren. Wann hört dieser Wahn endlich auf? Wie hoch muss das Risiko für die Bevölkerung noch werden, bevor Regierungen aufhören, es in Kauf zu nehmen?

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden