Hyper, hyper!

Netzkunst „My Boyfriend Came Back from the War“ machte Olia Lialina 1996 berühmt, sie ist der Marcel Duchamp des Internets
Ausgabe 37/2018

Olia Lialina ist so etwas wie der Marcel Duchamp der Netzkunst. Duchamp erklärte ein industriell gefertigtes Urinal, ein Alltagsobjekt, zur Kunst und wurde damit zu einer Ikone der Avantgarde, zu einem Pionier der modernen Kunst. Olia Lialina ist die Pionierin der Netzkunst. So wie sich Generationen von Konzeptkünstlern auf Duchamp berufen, orientieren sich seit über 20 Jahren Netzkünstler an ihrem Werk My Boyfriend Came Back from the War, das seit 1996 online ist. Ginge es nicht um Netzkunst, sondern um Malerei, wäre sie vielleicht so bekannt wie Gerhard Richter (und hätte finanziell ausgesorgt). Während Duchamps Readymades Preise auf dem Kunstmarkt von geschätzt 10 bis 30 Millionen US-Dollar erreichen, kostet eine Website von Lialina immerhin 100.000 Euro.

Vor zwei Jahren feierte die russische Künstlerin mit ihrer bahnbrechenden Arbeit My Boyfriend Came Back from the War 20. Geburtstag, der Ort der Feierlichkeiten war das Haus der elektronischen Künste Basel, eingeladen zur Ausstellung waren außerdem weitere Künstler mit ihren Remixen und Adaptionen. Der eigentliche Ausstellungsort von Netzkunst ist – der Name sagt es natürlich schon – das Internet.

Nur ein doofes T-Shirt

Als das Internet ab 1993 sehr langsam begann, sich zu einem Massenmedium zu entwickeln, fragten sich Netzkünstler, was mit dem Computer noch alles möglich ist. Früh hat der Medienwissenschaftler Tilman Baumgärtel Materialen zur Netzkunst zur Verfügung gestellt und Gespräche mit den Protagonisten geführt, um eine Grundlage für die sich entwickelnde theoretische Diskussion über künstlerische Aktivitäten im Internet zu liefern. Für Künstler, erklärte er damals, war das Netz der Anstoß, sich mit digitalen Medien zu befassen, es war einfach und billig, die Kunst konnte weltweit verbreitet werden, es brauchte plötzlich keine Galerien und Museen mehr, auch keine Gatekeeper wie Kuratoren und Kritiker.

Olia Lialina ist Künstlerin, Galeristin und Archivarin zugleich, die Auseinandersetzung mit ihrem Werk stellt sie online im Last Real Net Art Museum aus, wie sie selbst sagt, einem Museumspantheon für ihr erstes Projekt. Der Weg für den Besucher dorthin ist unfassbar kurz, der Eingang rasend schnell gefunden, man tippt „Last Real Net Art Museum“ in eine Suchmaschine ein und schon „steht“ man, ohne Eintritt bezahlt zu haben, mittendrin und kann sich umsehen. 33 Versionen von MBCBFTW – so die offizielle Abkürzung des Titels – finden sich dort mittlerweile, einige davon haben nicht mehr viel mit dem Original von Lialina, den HTML-Frames, zu tun. Es gibt beispielsweise eine Papierarbeit, eine Fassung bestehend aus bunten Klebezetteln und sogar T-Shirts. Darauf steht „my boyfriend came back from the war and all i got was this stupid t-shirt“.

Die vielen Versionen und die humorige Anverwandlung des Titels zeigen, welchen Kultstatus das Werk erreicht hat und erinnern subtil daran, dass die HTML-Frames besonders heute tatsächlich eine Sehenswürdigkeit sind, der Digital Natives sicherlich mit Ehrfurcht und Erstaunen begegnen. Dass sich durch Klicken sehr langsam Fenster neben Fenster schiebt, die Rahmen immer schmaler werden, daran können sich Internetnutzer maximal noch entfernt erinnern, wenn überhaupt. Lialina kam vom Film, die Kinosprache wollte sie auf das Internet übertragen, die Bilder und Texte fügen sich zu einer Erzählung, die wie ein Kurzfilm funktioniert. Die Geschichte geht so: Mein Freund kam aus dem Krieg zurück, das Wiedersehen gestaltet sich unerwartet schwierig, es ist viel passiert, Trennung und Trauma verhindern eine Aussprache, das Happy End in Form der Annahme des Heiratsantrags bleibt aus. Vielfach ist auf die melancholische Stimmung hingewiesen worden. Das Internet versprach Verbindung, aber die Geschichte erzählt von Entfremdung und der Unmöglichkeit, eine Beziehung zu führen, wenn es die äußeren Umstände nicht zulassen, so fasst es Michael Connor, Autor und Kurator für Netzthemen, im Ausstellungskatalog zusammen.

Olia Lialina, 1971 in Moskau geboren, wurde dieses Jahr für ihre Arbeit Self-Portrait der Netbased Art Award 2018 verliehen. Anachronistischer könnte eine Arbeit auf den ersten Blick kaum daherkommen. Während Künstler und Theoretiker sich am Massenphänomen Selfie abarbeiten, das unablässig als Symptom des Narzissmus in Zeiten sozialer Medien scharf kritisiert wird, zeigt Lialina ein klassisches, zumindest nennt sie es so, Selbstporträt. Auf den zweiten Blick allerdings verbergen sich dahinter Kritik und Utopie zugleich. Ihr Selbstporträt entsteht durch den Einsatz von drei Browsern, die zusammen das Video live im Loop abspielen. Lialina verwendet den Browser Google Chrome, wie normale Internetnutzer, hinzu kommen der Tor Browser, der die Datenüberwachung erschwert, und der Beaker Browser, Daten werden hier wie in einem Peer-to-Peer-Netzwerk verteilt. „In Zeiten von Edward Snowden und Cambridge Analytica ist diese Arbeit erfrischend optimistisch, indem sie uns darauf aufmerksam macht, dass es eben nicht nur ein Internet gibt, sondern mindestens drei, die sehr unterschiedlich sind, die nicht alle auf Überwachung, Kommerz und Manipulation optimiert sind, und dass wir uns mit Leichtigkeit in allen dreien bewegen können“, schreibt der Kultur- und Medienwissenschaftler Felix Stalder im Kunstbulletin.

Lialina lehnt, anders als die jüngste Generation Netzkünstler, die sozialen Medien ab, weil die Nutzer als Daten- und Inhaltsproduzenten ausgebeutet werden. Unternehmen verdienen so bekanntlich ihr Geld. Sie verweigert sich Facebook und Instagram, Twitter nutzt sie, aber eher wie Instagram, das haben ihr Freunde erzählt. Ihr ist das egal, sie sieht es als Qualitätsmerkmal ihrer künstlerischen Arbeit an, dass sie aktivistische Ziele verfolgt und sich von kommerziellen Interessen nicht leiten lässt. Junge Netzkünstler wie der Belgier Tom Galle, der sich selbst Meme-Künstler nennt und aus Logos von Unternehmen wie Nike und Facebook Waffen hergestellt hat, also auch laut Kritik übt, sind heute dort, wo ihr Publikum ist. Und das ist: auf Instagram.

Netzkunst oder genauer Webkunst, wie sie Olia Lialina macht, nämlich im Browser, wurde schon Anfang der 2000er Jahre totgesagt. Und wer ist überhaupt heute noch auf Webseiten und nicht einfach nur in den sozialen Medien unterwegs? Jetzt hat sie den Netbased Art Award verliehen bekommen, in der jungen Zürcher Galerie Roehrs & Boetsch war dieses Jahr ihre Einzelausstellung Lossless zu sehen, die Galeristin Nina Roehrs nimmt sie mit nach Berlin und zeigt auf der Art Berlin eine weitere Solo-Show. „Warum Lialina?“, will ich von ihr wissen. „Ist die Netzkunst auf dem Kunstmarkt im Kommen?“ Die Digitalisierung sei in aller Munde, erklärt Nina Roehrs, deshalb sei endlich mehr Platz für Künstler, die sich kritisch mit dem Medium auseinandersetzen. „Lialina hat das Internet mitgeprägt als ein für Künstler akzeptables Medium“, sagt sie.

Und Lialina? Auf den Kunstmarkt angesprochen schmunzelt sie. Sie ist New-Media-Professorin an der Merz-Akademie in Stuttgart, über Verkäufe macht sie sich keine Gedanken, wichtiger ist ihr die Archivierung von Netzkunst.

Info

Olia Lialina Galerie Roehrs & Boetsch 27. – 30. September 2018, Art Berlin, Flughafen Tempelhof, Hangar 5 und 6

Anika Meier schreibt für das Magazin Monopol eine Kolumne über Kunst und soziale Medien. Sie hat die Ausstellung Virtual Normality. Netzkünstlerinnen 2.0 im Museum der bildenden Künste Leipzig kuratiert. Ihr Buch Virtual Normality. The Female Gaze in the Age of the Internet ist im Verlag für moderne Kunst erschienen

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