In der Fotobuchhandlung meines Vertrauens arbeitete noch bis vor wenigen Monaten ein Fotobuchexperte, der, einmal angestupst, zehn Bücher aus dem Regal zog und drei Kurzvorträge aneinanderreihte. Jede Woche ging ich zu ihm, ließ mir Neues zeigen und verließ ihn nicht selten mit drei bis fünf Neuerwerbungen unter dem Arm. Schon sehr lange liegt auf einem der Tische mitten im Raum der Band Soviet Bus Stops von Christopher Herwig. Seine Bilder machen die Runde im Netz, weil sie ein abseitiges Phänomen zeigen, das sich als Distinktionsmerkmal, wie gern gesagt wird, für den Großstadthipster eignet. Der Fotobuchexperte ging daran immer achtlos vorbei, vielleicht, weil das Buch auch in Concept Stores neben Büchern über Milchschaum und Katzenbabys
Katzenbabys liegt. Irgendwann nahm ich das Buch über die sowjetischen Bushaltestellen in die Hand, sofort rief er zu mir hinüber: „Das kleine, feine Bändchen Architekturen des Wartens von Ursula Schulz-Dornburg kennst du, stimmt’s?“ Ich verneinte und ging dann damit nach Hause.Nähe zur Minimal ArtLange bevor kühler Beton und dystopische Architekturen en vogue wurden, weil sie sich wegen ihrer Wucht und Andersartigkeit gut im sozialen Netzwerk Instagram machen, reiste die Fotografin Ursula Schulz-Dornburg mit ihrer analogen Mittelformatkamera durch Europa, Asien und den Nahen Osten, um festzuhalten, was drohte, verloren zu gehen. Jetzt hängen die Fotografien dieser Bushaltestellen in der ersten institutionellen Überblicksschau über die künstlerische Entwicklung und Bandbreite der Fotografin unter dem Titel The Land In-Between im Frankfurter Städel Museum.Es ist eine ruhige Ausstellung, die dem Besucher schon beim Betreten des ersten Raums das Gefühl gibt, er habe alle Zeit der Welt, sich auf die Arbeiten einzulassen. Viele Stühle stehen herum. Sie laden ein, Platz zu nehmen, und signalisieren, dass die Arbeiten diese Zeit brauchen. Und so sitzt und steht man den sitzenden und stehenden Menschen an den Bushaltestellen in Armenien gegenüber. Die Fotos sind zwischen 1997 und 2011 zufällig entstanden, als Schulz-Dornburg nach der Auflösung der Sowjetunion dort war, um Klöster zu fotografieren. Plötzlich waren da vor ihr im Nirgendwo diese Haltestellen, marode, aus der Zeit gefallene Gebilde. Menschen, meist Frauen, warten, schick gekleidet, zurechtgemacht, als würden sie die große Reise in eine bessere Zukunft antreten und alles Zerfallende und Bröckelnde hinter sich lassen wollen.Es sind Bilder von anrührender Trostlosigkeit. Die Menschen in ihnen schauen mal selbstbewusst, mal schüchtern in die Kamera, während sie sich so gar nicht daran stören, dass sie unter diesen teils zerbrechlichen Konstruktionen keinen Schutz vor Wind und Wetter mehr finden, weil das Dach über ihnen den Halt verloren hat.Wenn man es nicht besser wüsste, würde man Schulz-Dornburg im Umfeld der sogenannten Düsseldorfer Schule um Bernd und Hilla Becher vermuten und wundert sich vielleicht, warum einem ihr Name aus diesem Kontext nicht geläufig ist. Schulz-Dornburg ist im Jahr 1938 geboren, sie lebt in Düsseldorf; wie die Bechers und deren Schüler fotografiert sie sachlich, objektivierend und aus der Distanz. Das Thema der Bechers waren die untergehenden Industrielandschaften mit ihren Hochöfen, Silos und Kühltürmen, ihre Fotografien arrangierten sie streng zu Tableaus. Die Bilder von Schulz-Dornburg sind Dokumente des Verfalls und Verschwindens, sie selbst fühlt sich der amerikanischen Minimal Art nahe. Im Katalog zur Ausstellung schreiben die Kuratoren Martin Engler und Iris Hasler, dass die Nähe zu dieser nicht nur in der Reduktion ihrer formalen Mittel, in ihren abstrakten Räumen und kubischen Formen liege, sondern sie offenbare sich auch in der Art und Weise, „wie der Betrachter als aktives sehendes Subjekt, als Teil des Prozesses der Sinnstiftung kenntlich wird“.An den Wänden in der Ausstellung hängen zu Beginn einer jeden Werkserie Ausschnitte aus Interviews, die den nötigen Kontext zu den Serien liefern. Denn plötzlich sieht man beispielsweise mitten in der Wüste die immer gleichen, sehr einfachen Gebäude, die dort nicht recht hingehören wollen. Es sind Bahnhofsgebäude, die von einem deutschen Ingenieur geplant wurden, bei der Strecke handelt es sich um einen uralten Pilgerweg, und eine Eisenbahn führte von Damaskus nach Medina.Für das breite Publikum des für seine Blockbusterausstellungen bekannten Städel Museums ist Ursula Schulz-Dornburg sicherlich eine Entdeckung. Wenn es denn davon mitbekommt. Die Laufzeit ist denkbar ungünstig und kurz, sie beschränkt sich auf die Sommermonate. Anfang Juli wurde eröffnet, Anfang September wird abgehängt. Wer die Fotografin nicht schon kennt, wird sich in dieser Zeit wohl eher nicht ins Museum verirren, auch wenn Kultureinrichtungen in den Sommermonaten in den sozialen Medien gern mit den kühlen Temperaturen in ihren Räumlichkeiten werben. Man kann diesem trotz seiner Klarheit und Unbeteiligtheit berührenden Werk nur viele Besucher und noch mehr Aufmerksamkeit wünschen.Placeholder infobox-1