Den Fernsehspot hätten auch die Jusos schalten können, die für ein Nein der SPD-Mitglieder bei der Urabstimmung über den schwarz-roten Koalitionsvertrag kämpfen. Kurz nachdem der mutmaßlich künftige sozialdemokratische Finanzminister Olaf Scholz im „Bericht aus Berlin“ den mit der Union ausgehandelten Koalitionsvertrag lobte, stellte die Fernsehlotterie eines ihrer Projekte vor: eine Einrichtung, in der Patienten kostenlos medizinisch behandelt werden. So ist es: In Deutschland braucht es Lotterien, um Anlaufstellen für Menschen zu finanzieren, die es sich nicht leisten können, zum Arzt zu gehen. Der Spot zeigte einen Selbstständigen, der zur Behandlung kam, einen Mann aus der Mitte der Gesellschaft.
Vielleicht wird es in Zukunft einige Menschen weniger geben, die in solche Einrichtung gehen müssen statt zum Arzt. Die künftige Bundesregierung, sollte sie zustande kommen, will die Mindestbeiträge für „kleine Selbstständige“ für die Krankenkassen senken. Doch eine Lösung für die mindestens 80.000 trotz Krankenversicherungspflicht nicht versicherten Menschen in Deutschland ist das nicht. Für sie und für viele andere, die im Alltag mit harten Belastungen kämpfen müssen, gibt der Koalitionsvertrag keine Aussicht auf Besserung.
Das gilt auch für alle Kassenpatienten, also 90 Prozent der Bürger. Sie müssen weiter die Bevorzugung von Privatpatienten in Arztpraxen und Kliniken hinnehmen. In der Gesundheitspolitik hat sich die Union auf ganzer Linie durchgesetzt. Das ist einer der Gründe, warum die Jungsozialisten den Koalitionsvertrag ablehnen. „Wir sind in den Wahlkampf mit der Forderung nach dem Ende der Zwei-Klassen-Medizin gestartet. Gelandet sind wir jetzt bei einer Kommission, die Vorschläge zur Entwicklung der Arzthonorare machen soll“, sagt Juso-Chef Kevin Kühnert. „Blendwerk“, nennt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Wohlfahrtsverbands „Der Paritätische“ das Verhandlungsergebnis zur Gesundheitspolitik. Von solchem Blendwerk machen die Koalitionäre in spe reichlich Gebrauch: Insgesamt sehen sie 15 Kommissionen und mehr als 100 Prüfaufträge vor. Im Vertrag würden viele gute Themen „vom BAföG, neuen Angeboten für Arbeitslose bis zum Wohngeld“ angesprochen, sagt Schneider. Aber: Diese Punkte blieben wie schon beim letzten Koalitionsvertrag unverbindlich. Angekündigte Verbesserungen fänden sich im Finanzierungsplan nicht wieder, kritisiert Schneider. „Es gibt zu viele ungedeckte Schecks.“
Besitzverhältnisse von 1913
Bei der Opposition kommen die Vereinbarungen von SPD und Union nicht gut an. „Der Koalitionsvertrag ist ein Dokument der sozialen Ignoranz“, sagt Katja Kipping, die Chefin der Linkspartei. „Es fehlen die großen Visionen“, so der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck. Er sieht allerdings auch „etwas Licht“, weil die künftige Bundesregierung in Bildung investieren will. Einige Milliarden Euro will sie dafür in die Hand nehmen, unter anderem möchte sie bis 2025 einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern einführen und Schulen digital ausstatten.
Koalitionsverträge sind selten Ausdruck kritischer Selbstreflexion der beteiligten Parteien über ihre Regierungsarbeit. Aber das aktuelle Verhandlungsergebnis ist ein frappierendes Zeugnis aufreizender Selbstzufriedenheit. „Die Wirtschaft boomt, noch nie waren so viele Menschen in Arbeit und Beschäftigung. Das ist auch Ergebnis der Regierungszusammenarbeit von CDU, CSU und SPD“, heißt es im Vertrag. Und: „Deutschland soll 2021 noch gerechter, wirtschaftlich stärker, sicherer und lebenswerter in allen Regionen sein.“
Noch gerechter? In der Bundesrepublik haben 45 Familien ein Vermögen, das dem Besitz der Hälfte der Bevölkerung entspricht. Deutschland 2018 ist ein sozial tief gespaltenes Land. Die rot-grüne Koalition hat um die Jahrtausendwende den Menschen mit den Hartz-Gesetzen, der Kürzung künftiger Renten und Steuersenkungen für Reiche die soziale Sicherheit genommen. Die folgenden Regierungen haben das fortgesetzt. Das Resultat ist nicht nur die verstörende soziale Spaltung in einem der reichsten Länder der Welt – die Besitzverhältnisse liegen heute auf dem gleichen Niveau wie 1913. Die deutsche Gesellschaft ist eine Angstgesellschaft geworden: die Furcht vor dem Absturz in das Hartz-IV-Elend, vor dem Verlust des errungenen kleinen Wohlstands und vor Altersarmut hat sich bis in die solventen Mittelschichten durchgefressen und ist einer der Gründe für den Erfolg der AfD. Union und SPD stellen nichts in Aussicht, um diese Ängste abzubauen. Die künftige Regierung löst die großen sozialen Aufgaben nicht, kritisiert der Paritätische Wohlfahrtsverband. Die gesellschaftliche Spaltung werde sich durch verschiedene Maßnahmen und vor allem Unterlassungen noch vertiefen. Das Regierungsprogramm sieht keine Steuererhöhungen für Reiche vor. Der Solidaritätszuschlag wird zu großen Teilen abgeschafft. Menschen mit geringem Einkommen bis 18.000 Euro im Jahr haben davon nichts, denn sie zahlen keinen Solidaritätszuschlag. Je höher das Einkommen, desto mehr hat ein Bürger oder eine Bürgerin von der Streichung.
Der Begriff „soziale Gerechtigkeit“ kommt im Koalitionsvertrag ganze zweimal vor, und zwar im Zusammenhang mit Europa und mit Lateinamerika. Das ist erstaunlich, denn immerhin hat sich die SPD soziale Gerechtigkeit im Wahlkampf auf die Fahnen geschrieben. Kurz nach der Wahl hatte SPD-Mann Scholz festgestellt, dass diese Festlegung durchaus richtig war, aber nicht zündete, weil die Wählerinnen und Wähler die SPD in dieser Frage nicht glaubwürdig fanden. Olaf Scholz hatte seinerzeit auch darauf hingewiesen, dass der Mindestlohn bei zwölf Euro liegen müsste, damit Beschäftigte wenigstens eine Rente über der Armutsgrenze erreichen können. Doch von einer Anhebung des Mindestlohns findet sich nichts im Koalitionsvertrag. Für Auszubildende soll jetzt aber eine Mindestvergütung eingeführt werden. Sie hatten bislang nichts vom Mindestlohn.
Kinderarmut falsch berechnet
Für Millionen von Hartz-IV-Empfängern gibt es keine Erhöhung. Als gäbe es nicht schon zu viele prekär Beschäftigte, wollen SPD und Union die Midi-Jobs durch Entlastung bei den Sozialbeiträgen ausweiten. Das sind Jobs mit monatlichen Einkommen zwischen 450 und 850 Euro. Immerhin soll ein Programm für bis zu 150.000 Langzeitarbeitslose mit einem „sozialen Arbeitsmarkt“ aufgelegt werden. Doch die ausufernde Armut wird damit nicht angegangen. Die liberale Bertelsmann-Stiftung, sicher kein Hort linken Vordenkens, warnt in zig Studien vor der Zunahme von Armut bei Eltern, vor allem bei alleinerziehenden Müttern. Gerade veröffentlichte die Stiftung eine Untersuchung, nach der mit 68 Prozent aller Alleinerziehenden viel mehr armutsgefährdet sind als bislang angenommen. „Wir werden ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Kinderarmut schnüren“, heißt es im Vertragstext der Großen Koalition. Konkret ist aber nur die Erhöhung des Kinderzuschlags, den Eltern mit sehr niedrigem Einkommen beantragen können und der jetzt bei 170 Euro liegt, vorgesehen. Doch das allein nützt nichts, warnt der Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV): „Damit ein erhöhter Kinderzuschlag bei der Mehrheit der in Armut lebenden Kinder ankommt, braucht es weitere Reformen an der Schnittstelle zum Unterhaltsvorschuss. Denn obwohl Einelternfamilien überproportional armutsgefährdet sind, erhalten sie bisher häufig gar keinen Kinderzuschlag und profitieren kaum von höherem Kindergeld.“ Doch in dieser Frage vertröstet die Große Koalition. Sie will prüfen, wie verschiedene Leistungen „besser aufeinander abgestimmt werden können.“ Dabei ist der Kinderzuschuss ohnehin nicht das geeignete Instrument gegen Armut. „Wir brauchen eine Kindergrundsicherung als einheitliche existenzsichernde Geldleistung, die alle Kinder gleichermaßen erreicht, unabhängig von der Familienform und dem Einkommen der Eltern“, fordert VAMV-Chefin Erika Biehn.
Für die Rentner: Almosen
Stattdessen wird das Kindergeld in zwei Schritten um 25 Euro erhöht. Angehoben wird auch der Kinderfreibetrag, mit dem das zu versteuernde Einkommen sinkt. Davon profitieren vor allem Besserverdienende. Auch das Baukindergeld ist etwas für Leute mit Geld. Familien sollen beim Erwerb von Wohneigentum 1.200 Euro pro Jahr und Kind bekommen. Das werden diejenigen mitnehmen, die bereits genug Eigenkapital haben.
In der Wohnungspolitik fällt die künftige Große Koalition hinter eigene Ansprüche von 2013 zurück. In Gegenden mit hohen Mieten sollen Vermieter Modernisierungskosten zwar nicht mehr zu elf Prozent, sondern nur noch zu acht Prozent auf die Jahresmiete umlegen dürfen. Die Große Koalition 2013 wollte das aber bis zur Amortisierung der Investitionskosten begrenzen, jetzt ist die Umlage unbegrenzt. Für den sozialen Wohnungsbau will die künftige Regierung die Bundesförderung bis 2021 mit einer Milliarde Euro fortsetzen. Bislang lag die Bundesförderung allerdings bei 1,5 Milliarden Euro. Fünf Milliarden Euro wären nötig, sagen Mietexperten.
Die weiter steigenden Mieten belasten vor allem Niedrigverdiener und Rentner. In den vergangenen Jahren hat sich der Anteil der unter 70-Jährigen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, verdoppelt. Grundsicherung ist die Sozialhilfe des Alters. Auch Durchschnittsverdiener werden künftig gerade mal auf eine Rente auf Grundsicherungsniveau kommen, wer weniger verdient oder lange arbeitslos ist, bleibt darunter. Das Problem: Grundsicherung gibt es erst, wenn Antragsteller fast sämtliche Reserven aufgezehrt haben. Wer Versicherungszeiten von mindestens 35 Jahren aufweisen kann, soll nach dem Willen von Union und SPD in Zukunft zehn Prozent mehr bekommen als die Grundsicherung. Das wären heute 880 Euro. Die 80 Euro zusätzlich gibt es aber nur, wenn bis auf selbst genutztes Wohneigentum die Rücklagen so gut wie aufgebraucht sind. Ein Almosen.
Einer der zentralen Punkte neben der Bürgerversicherung und dem (ebenfalls nicht erreichten) Familiennachzug für subsidiär geschützte Flüchtlinge, den die SPD-Führung in den Koalitionsverhandlungen durchsetzen wollte, war das Verbot der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverhältnissen. Das gibt es nicht. „Sachgrundlose Befristungen werden wieder zur Ausnahme, das unbefristete Arbeitsverhältnis soll wieder zur Regel werden in Deutschland“, heißt es trotzdem vollmundig im Koalitionsvertrag. Arbeitgeber mit mehr als 75 Beschäftigten dürfen nur noch maximal 2,5 Prozent der Belegschaft sachgrundlos befristen. Das wird das Problem nicht lösen. Rund drei Millionen Menschen in der Bundesrepublik haben einen befristeten Arbeitsvertrag und leben in Unsicherheit. Viele Befristungen, vor allem im öffentlichen Dienst, haben Sachgründe, wie „Mittel im Haushalt begrenzt eingestellt“. Hier wird sich nichts ändern. Immerhin scheint die künftige Regierung Ernst machen zu wollen mit ihrem Vorhaben von 2013, einen Anspruch auf befristete Teilzeit und das Rückkehrrecht auf eine Vollzeitstelle durchzusetzen. Aber das soll nur für Beschäftigte aus Unternehmen mit mehr als 45 Mitarbeitern und nicht uneingeschränkt gelten.
Auch dort, wo sich alle politischen Lager über den großen Handlungsbedarf einig sind, gibt sich die Große Koalition in spe mit Klein-Klein zufrieden. In Altenheimen und Kliniken ächzen die Beschäftigten unter der Arbeitsbelastung, weil es zu wenig Personal gibt. Laut Koalitionsvertrag sollen 8.000 neue Pflegekräfte neu eingestellt werden. Das ist eine halbe Stelle pro Einrichtung mehr.
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