Niedliche Habenichtse

Kinderarmut Unzählige Studien weisen auf das Problem hin. Die Politik ignoriert es
Ausgabe 45/2017

Arm sein in Deutschland, das kann für Kinder heißen: Nicht mit den anderen gemeinsam in der Schule Mittag zu essen, weil sich die Eltern das nicht leisten können; die Geburtstagseinladung der Schulfreundin nicht wahrnehmen zu können, weil kein Geld für ein Geschenk da ist; kaum Sport zu treiben (selbst wenn es für den Vereinsbeitrag reicht, spätestens wenn teure Ausrüstung angeschafft werden muss, wird es schwierig); selten Kino, Ausflüge oder eine Ferienfahrt. Als arm gilt, wer im Monat weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens zur Verfügung hat oder Hartz IV bekommt. Bei einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern ist das eine Summe von 1.490 Euro oder weniger im Monat.

Von wegen „reiches Deutschland“. Drei von zehn Kindern in der Bundesrepublik haben Armut erfahren, zwei davon fünf Jahre oder länger. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. „Kinderarmut ist in Deutschland ein Dauerzustand. Wer einmal arm ist, bleibt lange arm“, stellt Jörg Dräger vom Vorstand der Stiftung fest.

Dass permanente Ausgrenzung Kindern nicht guttut, liegt auf der Hand. Der Studie zufolge sind Jungen und Mädchen aus armen Elternhäusern häufiger krank, müssen häufiger eine Klasse wiederholen und haben schlechtere Noten als der Nachwuchs der Wohlhabenden. „Wer schon als Kind arm ist und nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, hat auch in der Schule nachweisbar schlechtere Chancen. Das verringert die Möglichkeit, später ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Armut zu führen“, sagt Dräger. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Armut in Familien von einer Generation auf die andere übergeht.

Keine Randerscheinung

Dass Kinderarmut im wirtschaftlich so starken Deutschland keine Randerscheinung ist, ist nicht neu. Es gibt zig Studien, Erhebungen und Analysen dazu. Die als neoliberale Denkfabrik geltende Bertelsmann-Stiftung lässt das Phänomen ständig untersuchen und legt regelmäßig Untersuchungsergebnisse vor. Immer wieder weisen Kinderschutzorganisationen und Wohlfahrtsverbände auf die alarmierenden Zahlen hin. „Seit Jahren legen wir den Finger in die Wunde“, sagt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Wohlfahrtsverbands „Der Paritätische“, eines Dachverbands von mehr als 10.000 Organisationen im Sozial- und Gesundheitsbereich. Schneider ist einer der wenigen Lobbyisten für Arme, die öffentlich Gehör finden. „Wir waren bisher extrem erfolglos“, bedauert er. Schneider fürchtet, dass sich das zumindest in den kommenden vier Jahren nicht ändert.

Immerhin haben grüne Spitzenleute die Veröffentlichung der Bertelsmann-Studie zum Anlass genommen, darauf zu drängen, dass Kinderarmut zu einem Schwerpunktthema bei den Gesprächen mit Union und FDP über eine neue Regierung wird. „Ich möchte nicht in vier Jahren dastehen für den Fall, dass wir an einer Regierung beteiligt wären, und noch einmal sagen müssen, jedes fünfte Kind lebt in Armut“, sagt die grüne Spitzenfrau Karin Göring-Eckhardt. In einem Leitlinien-Papier der Sondierer für eine Jamaika-Koalition steht das Thema Kinderarmut im Mittelpunkt. Die möglichen Koalitionäre wollen unter anderem Betreuungsangebote verbessern und Grundschulkinder fördern.

Doch Schneider glaubt nicht, dass eine Jamaika-Koalition etwas wirklich Durchschlagendes auf den Weg bringt. „Das Thema Armut selbst taucht nicht in den Papieren der Verhandler auf, nicht einmal in denen zur Sozialpolitik“, kritisiert er. Die Fokussierung auf Kinderarmut sei ein Kunstgriff. „Es gibt keine armen Kinder, nur arme Eltern“, betont er. Doch das wird in der öffentlichen Diskussion gerne ausgeblendet. „Mit armen Erwachsenen will niemand etwas zu tun haben“, sagt Schneider. „Es gibt Aversionen gegen sie. Gerade in der Politik.“ Mit dem Begriff Kinderarmut bekommt das hässliche Thema Armut eine nette Fassade, sagt er. „Denn bei Kindern kann man nicht die Schuldfrage stellen.“ Das Problem wird regelrecht verniedlicht. „Die Individualisierung von Armutsursachen, wie sie von neoliberaler Seite betrieben wird, funktioniert bei Kindern nicht“, sagt er. Arme Kinder werden – anders als arme Erwachsene – nicht diffamiert. Aber ihnen wird auch nicht geholfen.

Armutsbekämpfung gelingt mit dem Fokus auf Kinder allein nicht. Wäre die gewünscht, wäre man schnell beim Thema Umverteilung, ist Schneider überzeugt. Im Auftrag des Bündnisses „Reichtum umverteilen“, in dem von Attac über den Paritätischen bis zum Zukunftsforum Familie mehr als 30 zivilgesellschaftliche Organisationen zusammengeschlossen sind, hat er in einem offenen Brief an die Jamaika-Gesprächspartner unter anderem die Einführung einer Vermögenssteuer sowie die Erhöhung der Erbschaftssteuer gefordert, damit Geld für Sozialreformen in die öffentlichen Haushalte kommt. Doch das wird es mit Jamaika nicht geben, darin waren sich die Sondierer schnell einig. Außerdem halten sie an der „schwarzen Null“, einem ausgeglichenen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung fest. Für einen großen sozialpolitischen Wurf wird die neue Regierung, sollte sie zustande kommen, also keinen finanziellen Spielraum sehen – weil sie selbst ihn beseitigt haben wird.

Was hilft? Mehr Geld!

Sollten sich Union, FDP und Grüne einig werden, werden sie wohl zum Punkt Kinderarmut etwas Symbolisches vorlegen, erwartet Schneider. Etwas, das nicht viel kostet, wenig bringt, aber gut klingt. Schneider tippt auf Projekte zu Bildung. „Was zu Bildung zu machen, ist ja schön“, sagt er. „Bildung kann Armut verhindern, sie ist gut für die Prävention.“ Aber denjenigen, die schon arm sind, nützt das nichts.

Kinderhilfsorganisationen und Wohlfahrtsverbände haben klare Vorstellungen, was armen Menschen tatsächlich etwas bringen würde: mehr Geld und der Ausbau kostenloser oder zumindest sehr preiswerter öffentlicher Dienstleistungen. Reiche können sich Kinderbetreuung, Mobilität, Bildungs- und Sportangebote kaufen, Arme können nur verzichten.

Schneider fordert von der neuen Bundesregierung einen Masterplan zur Armutsbekämpfung. „Wer Kinder vor Armut schützen möchte, muss in die Eltern investieren“, sagt Schneider. „Wir müssen die ganze Familie mitnehmen.“ Dazu gehört eine öffentliche Beschäftigungsförderung für Langzeitarbeitslose ebenso wie Qualifizierungsmaßnahmen und der Ausbau der Kinderbetreuung.

Auch die Autoren der Bertelsmann-Stiftung sehen, dass etwas grundsätzlich geändert werden muss, wenn der Armutskreislauf durchbrochen werden soll. Sie fordern ein „Teilhabegeld“ für Kinder, in das die bisherigen Leistungen wie Hartz IV oder das Kindergeld fließen sollen und das einkommensabhängig abgeschmolzen wird. Die Forderung hat in Schneiders Augen einen entscheidenden Mangel: Es fehlen konkrete Zahlen. So bleibt der Vorschlag diffus. Schneider und Vertreter von Kinderhilfsorganisationen dagegen fordern eine Kindergrundsicherung von 573 Euro im Monat, denn das wäre existenzsichernd. Heute liegt der Hartz-IV-Satz für Kinder je nach Alter zwischen 237 Euro und 311 Euro. Die Idee: Die Grundsicherung bekommen alle Eltern. Mit der Steuererklärung wird danach individuell festgelegt, wie viel davon an den Fiskus zurückgeht. Dadurch würden alle anderen Leistungen wie Kindergeld oder Hartz IV abgelöst.

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