Verrechnet, aber richtig

Abzocke Versicherer wollen weniger von ihren Gewinnen rausrücken. Schuld daran sollen die Niedrigzinsen sein
Ausgabe 30/2018

Ein Fall von „Enteignung“ – so beschreibt der Chef des Bundes der Versicherten, Axel Kleinlein, ein Prozedere, das gern mit Vokabeln wie „Beteiligung an den Bewertungsreserven“ verschleiert wird. Kleinlein und seine Verbraucherschutzorganisation streitet seit Langem dafür, dass Kunden einen höheren Anteil an den Kapitalgewinnen von Versicherungsgesellschaften erhalten. „Es handelt sich schließlich um ihr Geld“, sagt er. Gerade hat er vor dem Bundesgerichtshof (BGH) eine herbe Schlappe erlitten. Doch er will weiterkämpfen.

Ende Juni urteilte der BGH, dass Lebensversicherer ihre Kunden in geringerem Umfang an Kursgewinnen von festverzinslichen Wertpapieren beteiligen dürfen, als das bis vor Kurzem vorgeschrieben war. „Es geht um Milliarden im zweistelligen Bereich, die Versicherten vorenthalten werden sollen“, kritisiert Kleinlein. Die Folgen: Kunden müssen mit einer geringeren Altersvorsorge rechnen. Und: „Insbesondere Verbraucher, die ihre Immobilie mit einer Kombination aus Darlehen und Lebensversicherung finanzieren, könnten Probleme bekommen“, sagt Sven-Wulf Schöller von der Arbeitsgemeinschaft Versicherungsrecht im Deutschen Anwaltverein (DAV).

In dem Fall vor dem BGH ging es um einen Kunden, der 1999 einen Vertrag bei der Victoria Lebensversicherung abgeschlossen hatte. Als die Auszahlung am 1. September 2014 fällig wurde, bekam der Kunde statt der versprochenen, wenige Monate zuvor noch von der Victoria selbst angekündigten 50.274 Euro lediglich 47.601 Euro überwiesen.

Gut gebriefter Gesetzgeber

Zwischen Ankündigung und Auszahlung lag eine Gesetzesänderung, die im August 2014 in Kraft trat. Sie erlaubt Versicherungsgesellschaften eine geänderte Berechnung der sogenannten Bewertungsreserven. Diese entstehen, wenn der Marktwert einer Kapitalanlage höher ist als der Einkaufspreis, also wenn etwa eine Versicherungsgesellschaft eine Aktie für 20 Euro kauft, die 15 Jahre später 50 Euro wert ist. Dann liegen die Bewertungsreserven bei 30 Euro. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2005 mussten Lebensversicherer bei Vertragsende die Hälfte dieser Bewertungsreserven an die Verbraucher auszahlen. Doch im Zuge der Finanzkrise und der seither anhaltenden Niedrigzinsphase revidierte der Gesetzgeber das – auf Drängen der Versicherungsbranche.

Das Argument: Die Gesellschaften haben Millionen Verträge in ihren Beständen, bei denen Kunden Anspruch auf eine für heutige Verhältnisse hohe Verzinsung haben. Wer in den 1990er Jahren oder zu Beginn des Jahrtausends eine klassische Kapitallebens- oder eine private Rentenversicherung abschloss, bekam von den Anbietern die Garantie, dass die Beiträge und das angesammelte Kapital – je nach Abschlussjahr – mit bis zu vier Prozent verzinst werden. Damals priesen die Anbieter die Verträge gerade damit an, dass Lebensversicherungen auch in schlechten Kapitalmarktzeiten rentabel seien. Heute liegt die Garantieverzinsung für neue Verträge nur noch bei 0,9 Prozent – nicht einmal ein Inflationsausgleich. Ein Abschluss lohnt sich nicht mehr; einen alten Vertrag zu behalten, aber umso mehr.

Das zeigt die Krise des Geschäftsmodells Lebensversicherung. Mit dem Geld ihrer Kunden haben deutsche Anbieter gewaltige Kapitalanlagen aufgebaut, mehr als 900 Milliarden Euro. Früher, als es sichere Bundesanleihen für fünf oder mehr Prozent Verzinsung gab, war es leicht, den Kunden Garantien zu geben, die aus heutiger Sicht großzügig erschienen. Heute bringt eine zehnjährige Bundesanleihe 0,3 Prozent. Dabei ist es in Zeiten anhaltend niedriger Zinsen zwar anspruchsvoll, hohe Renditen zu erreichen, aber nicht unmöglich, 2017 kam die Branche immerhin auf eine Nettoverzinsung von 4,49 Prozent. Konzerne wie die Allianz versuchen, Public-Private-Partnership-Projekte im Straßenbau anzustoßen, andere investieren in Immobilien oder vergeben Darlehen an Hausbauer.

In ihren Büchern haben die Versicherer durchaus noch Wertpapiere mit hohen Verzinsungen. Sie argumentieren: Wenn sie die verkaufen müssten, um auslaufende Verträge an den Bewertungsreserven zu beteiligen, litten die verbleibenden Kunden, denn für neu angelegtes Kapital gibt es weniger Geld. Die Versicherer finden das Urteil des BGH deshalb richtig. „Die aktuelle Regelung dient dem angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen ausscheidender und verbleibender Versicherungsnehmer“, sagt Peter Schwark vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft.

Der BGH hat den Fall an die Vorinstanz zurückverwiesen. Vor dem Landgericht Düsseldorf muss die Victoria nachweisen, dass die Garantien für die verbleibenden Kunden ohne die Kürzung für die ausscheidenden nicht sichergestellt werden können. Das könnte spannend werden. Denn die Ergo-Lebensversicherer, zu denen die Victoria gehört, machten 2014 allein in Deutschland einen Gewinn von 67 Millionen Euro. Der Bund der Versicherten will das BGH-Urteil vor dem Bundesverfassungsgericht anfechten. „Es geht um Geld, das den Kunden verfassungsrechtlich zusteht“, sagt Kleinlein, der selbst studierter Versicherungsmathematiker ist. Er sieht die Probleme der Gesellschaften durchaus – aber hält sie für selbst verschuldet. „Wir erleben jetzt die enormen Kalkulationsfehler der Versicherer“, sagt er.

Seit 2011 zwingt die Bundesregierung Versicherer zur Bildung einer Reserve für die hohen Zinsgarantien, der sogenannten Zinszusatzreserve. Dort haben sich bis Ende 2017 60 Milliarden Euro angesammelt. Nun will die Branche weniger Geld in den Puffer stecken. Auch Kleinlein plädiert dafür, dass „diese Schlinge gelockert“ und mehr an die Kunden ausgeschüttet wird. Das Bundesfinanzministerium hat Änderungen in Aussicht gestellt und will an anderer Stelle die Zügel anziehen.

Denn abgezockt werden Kunden schon beim Abschluss. Lebensversicherungen kauft man nicht, Lebensversicherungen werden verkauft, so ein alter Branchenspruch: Viele Menschen haben nur deshalb eine Police, weil sie von Vermittlern dazu gedrängt wurden. Letztere kassieren hohe Abschlussprovisionen, oft Tausende Euro, die die Auszahlung der Kunden schmälern. Das Bundesfinanzministerium will für eine Begrenzung sorgen. Der grüne Bundestagsabgeordnete Gerhard Schick hält das für Augenwischerei. „Wir brauchen ein generelles Verbot von Provisionen“, fordert er. Ohne diese Anreize für die Verkäufer könnten die Versicherer den Verkauf wohl einstellen – für die Verbraucher wäre das gut.

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