Leipzig, im Sommer, Depeche Mode gibt im Zentralstadion eines ihrer Deutschlandkonzerte. Die Show ist nicht einmal ausverkauft, dennoch versammeln sich hunderte ticketlose Zuhörer vor dem Veranstaltungsort und machen es sich auf Decken mit selbst mitgebrachtem Wein und Keksen gemütlich. Man kriegt das Gefühl, die Beatles wären wieder auferstanden und jeder wolle ein Stück vom Wunderkuchen abhaben.
Dabei ist das ein einfaches Depeche- Mode-Konzert. Während zehntausende Musikfans zwischen 50 und 150 Euro für eine der Sommershows anderer Bands berappen, sparen die Draußengebliebenen das Eintrittsgeld und sind trotzdem dabei. Der Sound ist nur unwesentlich schlechter, wenn man an der richtigen Stelle sitzt. Oft trennen nur zehn Meter das Außenpubliku
;enpublikum vom Innenpublikum. Auch die Industrie hat sich auf diese Kultur eingestellt – außerhalb der Absperrungen gibt es ebenso viele Würstchen-, Brezel- und Bierstände wie innerhalb. Und das Geschäft blüht.Depeche Mode schallt über den ZaunEs ist 21 Uhr. Depeche Mode müssten jeden Moment auf die Bühne kommen. In einer kleinen Parkanlage nahe dem Stadion haben drei junge Männer ihren Grill angeworfen und einen Kasten Bier daneben gestellt. In den Häusern gegenüber sind die Fenster sperrangelweit geöffnet, so als wollten die Anwohner vom Konzert mitnehmen, was geht. Um das Stadion zieht sich ein überwältigend dichter Rahmen von Spektakelteilnehmern. Einer trägt ein Che-Guevara-T-Shirt mit der Aufschrift „Hasta la victoria siempre“ – „Auf den ewigen Sieg“. Passt ja irgendwie zu jemandem, der den monetären Anforderungen eines Mega-Rock-Konzertes durch parasitäres Mithören widersteht.Einige der Draußen-Hörer nennen es „eine billige Art, mal in die Musik und das Feeling reinzuschnuppern“, wie beim Probehören einer CD im Plattenladen, die man dann doch nicht kauft. Andere scheinen aber doch vollblütige Anhänger zu sein, tragen ein Depeche-Mode-T-Shirt oder sind im Zeremonienkostüm aufgetaucht: schwarze Gotik-Kluft, ketten- und schmuckbehangen und mit gegelter Tiefschwarz-Frisur, in der Hand ein Bier oder eine Flasche Wein. Und alle schauen sie in dieselbe Himmelsrichtung: über den Stadionzaun hinweg, dorthin, wo die Musik her kommt. Dazwischen tummeln sich Abfallsammler, die mit Beuteln bepackt den Boden luchsäugig nach mehr oder minder wertvollen Gegenständen absuchen, in erster Linie Pfandflaschen.Zur Zugabe öffnen die Türsteher die ToreManchmal machen die Draußen-Fans mit ihrer Strategie einen Glücksgriff. Zum Beispiel im Hochsommer 1999 im Londoner Hyde Park. Unendliches Grün umgab die provisorische Open-Air-Arena, in der Popikone Cliff Richard aufspielte. Touristen und Fans pilgerten gleichermaßen in diese Doppeloase aus Musik und Natur, schlugen ein kleines Picknick-Lager auf, plauderten, tänzelten und störten sich wenig daran, dass sie den „Some-People“-Sänger nicht zu Gesicht bekamen. Immerhin konnte man durch den Zaun lugen. Aber dann, als die Zugaben begannen, die große Überraschung. Das Sicherheitspersonal öffnete großzügig die Tore für die Draußengebliebenen. Dann erst machte sich wahre Euphorie breit. Drei Lieder in der Abenddämmerung inmitten der aufgeheizten Masse, das war doch irgendwie schöner als aus der Distanz.Das wissen auch die Depeche-Mode-Mithörer vorm Zaun in Leipzig. Zwar sehen einige die Vorteile: „Man kann die Getränke selbst mitbringen und muss nicht 3,50 Euro für ein kleines Bier bezahlen.“ „Man hat Platz. Drinnen ist es ja wie in einer Ölsardinenbüchse.“ „Es ist nicht ganz so laut.“ Aber andere geben zu: „Wir wären schon lieber drin, man sieht ja nichts.“Ob das Draußenbleiben befriedigt, hängt davon ab, wie sehr man sich als Anhänger der Bühnenkünstler fühlt. Wer nur zum Zeitvertreib am Spektakel teilhaben möchte, hat keinen Grund zu klagen, ein Fan aber wird unweigerlich vor den Mauern trauern. Für ihn ist der Unterschied zwischen innen und außen nicht beliebig. Jenseits des Zauns beginnt der heilige Bereich. Nur dort ist der Bruch mit dem Profanen zu spüren, wenn einen die Bühnenstrahler erfassen und zum Teil der Masse machen. Dieses Zusammensein, die Lieblingsband im Blick, schließt den Alltag aus. Da wird nicht gegessen oder getrunken oder geschwatzt oder auf die Toilette gegangen. Da wird nur der Musik gelauscht, auf die Bühne geschaut und in beinahe sakraler, meditativer Weise die Präsenz der Musiker zelebriert. Der eine wird andächtig, der andere rockt mit. Das kann wie eine Selbstreinigung wirken, zumindest aber wie eine Beurlaubung von allem, was man sonst so ist und tut.Die Kosten der Transzendenz sind nicht zu unterschätzenFür diese rituelle Stimmung wird draußen versucht, Ersatz zu schaffen. In einer Ecke vor dem Leipziger Stadion kann man die übergroßen Leinwände besonders gut sehen. Dort sammelt sich eine Menschentraube, die tanzt, johlt und klatscht, als stünde sie direkt vorm Bühnenrand. Die Zuhörer halten Handy-Kameras in die Luft, um mehr zu sehen oder Videos aufzunehmen. Das kommt der Stimmung im Innenraum noch am nächsten.Und doch muss die ständige Erinnerung ans Ausgeschlossensein für den echten Fan wie Salz in einer Wunde brennen. Vorm Zaun des Depeche-Mode-Konzerts steht eine junge Frau: „Ich könnte heulen, weil ich nicht dabei sein kann, aber ich konnte mir einfach keine Karte leisten.“ Wer Transzendenz durch Pop will, muss wohl doch bezahlen.