Gräser, Wildblumen – und alles ist vergeben

Grüne Neue Regierung, neue Ministerposten, neues Spitzenduo – die Partei blickt nach vorne. Dabei vergisst sie eine wichtige Sache: Die Aufarbeitung der Bundestagswahl
Ausgabe 05/2022
Das neue Spitzenduo der Grünen: Omid Nouripour und Ricarda Lang
Das neue Spitzenduo der Grünen: Omid Nouripour und Ricarda Lang

Foto: Bildgehege/IMAGO

„Wird es hart werden? Ja.“ So lautet Ricarda Langs Antwort auf die von ihr selbst gestellte Frage nach der Rolle der Grünen als Regierungspartei in der Ampel. Die 28-Jährige ist seit dem zurückliegenden Wochenende gemeinsam mit Omid Nouripour neue Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Schon in den ersten Minuten ihrer Bewerbungsrede spielte jener innere Konflikt eine tragende Rolle, der die Partei bereits zwischen 1998 und 2005 umgetrieben hat: Wie selbstbewusst kann eine Partei agieren, die ihre Wurzeln in der Umwelt- und Friedensbewegung hat, deren Regierungsvertreter:innen aber schmerzhafte koalitionäre Kompromisse werden schließen müssen?

Klar, Lang hätte sich nicht für das Spitzenamt beworben, wenn sie die Frage der Sinnhaftigkeit der Ampel mit „Nein“ beantworten würde. Wie es bei den Grünen generellen vogueist, Bockhaben öffentlich auszustellen und Parteitage zwischen Gräsern und Wildblumen zu inszenieren. Aber kann die Partei voranschreiten, ohne darüber nachzudenken, warum im September nur 14,8 Prozent der Wählenden bei ihr das Kreuz gemacht haben? Und welche Konsequenzen daraus gezogen werden? Der Eindruck verstärkt sich, dass nach diesem Parteitag einfach zum Tagesgeschäft übergegangen werden soll: neue Doppelspitze, neue Politische Geschäftsführerin (Emily Büning) – jetzt lasst uns nach vorne schauen!

Nur um das noch einmal zu verdeutlichen: Im Frühsommer 2021 wollte jede:r vierte Befragte den Grünen die Stimme geben. Sie hatten eine mitreißende Kandidatin mit Wohnsitz in Ostdeutschland im Angebot, die schon etwas von der Welt und dem politischen Betrieb gesehen hat und sich mit ihrem Partner den Familienalltag teilt. Eine Frau, die die Großstadtmoderne bei gleichzeitig provinzieller Herkunft personifiziert. Die furchtlos wirkte und witzig sein konnte. Perfekt!

Aber dann stellte sich heraus, dass Annalena Baerbocks Buch Jetzt in Teilen kopiert war. Dass ihr Lebenslauf korrigiert werden musste. Dass sie Nebeneinkünfte in Höhe von 25.000 Euro „versehentlich“ nicht angemeldet hatte. Das Vertrauen in die Kanzlerkandidatin bröckelte, ebenso die Umfragewerte der gesamten Partei. Und nach der Wahl fragte niemand mehr, wer das denn nun bitte vergeigt hat. Baerbock sagte einfach, sie „übernehme die Verantwortung“ – und anschließend ging es mit Volldampf in die Koalition. Beim Parteitag am Wochenende wurde sogar ein Antrag abgelehnt, der eine Arbeitsgruppe mit der Aufarbeitung der „krachenden Niederlage“ (Winfried Kretschmann) vorsah. Am Beginn eines Jahres mit vier Landtagswahlen lässt das nichts Gutes hoffen.

Ja, Aufarbeitung braucht Zeit, die in einer Regierungsbeteiligung knapp ist. Und ja, für Michael Kellner kann es unangenehm werden. Als damaliger Politischer Geschäftsführer war er verantwortlich für den Wahlkampf. Dass unter seiner Leitung das Umfrageergebnis der Partei auf die Hälfte runtergewirtschaftet worden ist, hatte für ihn jedoch zur Folge, dass er – Ergebnis in seinem Wahlkreis Uckermark 5,8 Prozent – von Wirtschaftsminister Robert Habeck zum „Mittelstandsbeauftragten“ befördert wurde.

Es mag sein, dass schon bald die verlorene Kanzlerkandidatur im Strudel der Ampel-Obliegenheiten vergessen ist. Aber die Lektion – das Learning, wie politische Vertreter:innen gerne sagen – bleibt: Du kannst bei den Grünen Murks bauen. Folgen hat es keine. Jedenfalls nicht für dich selbst.

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