Wer braucht schon Kerle?

Ehe Frauen im Osten dachten selten, der Mann sei ihr Versorger. Frauen im Westen müssen das erst lernen
Ausgabe 04/2019

Nicht alles war in der DDR so einfach, wie sich scheiden zu lassen. Eine durchschnittliche Trennung erfolgte in der sozialistischen Republik innerhalb eines Monats, unkompliziert und kostengünstig. Vom Ehekonflikt und von den emotionalen Belastungen abgesehen, blieb das für Ostfrauen wirtschaftlich folgenloser als für Westfrauen. Sie sollten dem sozialistischen Ideal nach emanzipiert und unabhängig sein. Im Verlauf der knapp 40 Jahre DDR-Geschichte wurden sie das auch, mal staatlich verordnet, mal aus eigenem Antrieb – mit oder ohne Gatten.

Im Zuge meiner Forschungen habe ich unter anderem Juristinnen und Juristen aus Ost und West interviewt. Sie erinnern sich an die Verblüffung vieler ehemaliger DDR-Bürger, dass sie trotz der Trennung füreinander sorgen und miteinander verbunden sein sollten. Hatten sie sich nicht scheiden lassen, um genau das zu beenden? DDR-Familienrichterinnen wie Evelyn Tretschow* waren irritiert, dass Dinge wie nachehelicher Unterhalt – für die Frau! – plötzlich eine Rolle spielten. „Es gab ja kaum Hausfrauen. Die Eigenverantwortung war jedem klar.“ Rückblickend sagt sie, sie habe „wenig Einfühlvermögen für viele Westfrauen“ gehabt, „die hier rüberkamen“ und „flotte Locke Unterhalt geltend gemacht haben“. Für die Ostfrau sei klar gewesen, „die muss arbeiten gehen“. Der Westfrau habe sie entgegnet: „Du kannst dich hier nicht ausruhen.“

Immer ihr eigenes Geld

Das DDR-Scheidungsrecht folgte dem Emanzipationsgedanken im SED-Regime. Die Trennung beendete jegliche familienrechtliche Bindung, außer bezüglich der Kinder. Die geschiedenen Gatten sollten ihr Leben unabhängig voneinander führen und sich entsprechend eigenverantwortlich versorgen. Das klassische Versorgermodell – also die Regelungen des sogenannten Ehegattenunterhalts – gab es nicht. Dieses Konstrukt war Ostdeutschen fremd. Sozialistische Gerichte gewährten es nur in Ausnahmefällen.

Zur Person

Anja Schröter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Ihre Dissertation wurde unter dem Titel Ostdeutsche Ehen vor Gericht. Scheidungspraxis im Umbruch 1980 – 2000 veröffentlicht

Seit den 1970er Jahren erhielten vor allem Mütter mit Kleinkindern finanzielle Unterstützung vom Ex-Ehemann, wenn sie beispielsweise keinen Krippenplatz hatten und den Unterhalt nicht selbst bestreiten konnten. Insgesamt war Ehegattenunterhalt bis zum Ende der DDR zur Marginalie geworden und wurde nur noch in etwa drei Prozent der Scheidungsfälle zugesprochen.

Der Anwältin Marie Bergmann* und der Richterin Hanna Nordmann*, die beide in der Bonner Republik sozialisiert wurden, aber in beiden Teilen Deutschlands tätig waren, ist noch sehr präsent, wie selten ostdeutsche Frauen nach der Einheit nachehelichen Unterhalt beantragten. Sie seien erst gar nicht mit dieser Erwartung gekommen, während westdeutsche Mandantinnen massiv auf Alimente gedrängt hätten. Marie Bergmann sagt, der Versorgungsgedanke aus der Ehe heraus sei im Westen noch heute ausgeprägter als im Osten, wo „man für sich selber verantwortlich war“. Die 2008 in Kraft getretene Unterhaltsrechtsreform habe jedoch dazu geführt, dass „die gesamtdeutsche Wirklichkeit den Westen eingeholt“ habe.

Hanna Nordmann pflichtet ihr bei. Aus ihrer Sicht sei es für ostdeutsche Frauen normal, „immer ihr eigenes Geld“ zu haben. Sie wollten mit der Scheidung nicht nur unter die emotionalen, sondern auch unter die wirtschaftlichen Beziehungen einen Schlussstrich ziehen. Für viele ostdeutsche Frauen war es trotz der neuen Bedingungen nach 1990 keine Option, „nur“ Hausfrau zu sein, sich vom Ehemann versorgen zu lassen und nach der Scheidung finanziell an den Ex-Mann gebunden zu bleiben. Fast 30 Jahre nach der deutschen Einheit hat sich die Gesellschaft in Ost und West weiter verändert. Ein Blick in die Familiengerichts-Statistiken der Jahre 2012 und 2017 zeigt aber, dass die Frage des Ehegattenunterhalts im östlichen Bundesgebiet im Vergleich zum westlichen bis heute deutlich seltener, nämlich weiterhin nur halb so oft, relevant ist.

Die Gleichberechtigung war ein sozialistisches Ideal. Frauen sollten nicht nur Familienarbeit als Hausfrau und Mutter, sondern auch Erwerbsarbeit leisten – offiziell im Interesse ihrer Selbstverwirklichung. Jenseits dieser ideologischen Vorstellung veranlassten das SED-Regime auch praktische Nöte dazu, Frauen für die Arbeit zu gewinnen. Es versuchte die Vereinbarkeit von Familie und Beruf also auch aufgrund des Arbeitskräftemangels in der DDR zu fördern. Insbesondere seit den 1970er Jahren setzte die Parteiführung auf zusätzliche Vergünstigungen für Mütter wie geringere wöchentliche Arbeitszeiten, den monatlichen Haushaltstag, finanzielle Unterstützung während des Studiums oder der Ausbildung oder das sogenannte Babyjahr. Zudem wurde das Kinderbetreuungsnetz ausgebaut, sodass 90 Prozent der Kinder 1989 einen Kindergarten besuchten. Die Frauenerwerbsquote lag bei etwa 80 Prozent. Die Doppelverdiener-Ehe wurde zum dominierenden Modell.

Spürbar bis heute

Das Postulat der Gleichberechtigung galt auch für die Ehe. Schon das Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau von 1950 trat dem tradierten Geschlechterbild des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) entgegen. Frauen durften demnach nicht daran gehindert werden, einen Beruf auszuüben, und sollten gleichberechtigt mit ihrem Ehemann über die eheliche Wohnung oder das Vermögen entscheiden. Nach dem Familiengesetzbuch von 1965 sollten explizit beide Ehepartner bei der Kindererziehung und Haushaltsführung mitwirken.

Trotz dieser „Emanzipation von oben“ trugen Frauen im Alltag die Doppelbelastung durch Vollzeiterwerb und Familie. Sie verrichteten weiterhin etwa 80 Prozent der Hausarbeit, der nur sekundäre Bedeutung zugemessen wurde. Viele Frauen arrangierten sich aber mit dieser Rolle und empfanden sich insgesamt als gleichberechtigt. Zusammen mit dem in der Familien- und Arbeitswelt stetig propagierten Slogan der Gleichberechtigung entstand eine Art „innerer Emanzipation“, die bis heute spürbar ist.

In der alten Bundesrepublik blieben Frauen häufig zu Hause oder arbeiteten in Teilzeit. Es dominierte das sogenannte Allein- oder Zuverdiener-Modell. Sie sollten ihren Lebensstandard auch nach einer Scheidung aufrechterhalten können. Entsprechend stellte nachehelicher Unterhalt bei westdeutschen Scheidungen einen gängigen Regelungsgegenstand dar. Im Zuge der deutschen Einheit 1990 trafen die gesellschaftlichen Prägungen der ostdeutschen Bevölkerung auf das bundesdeutsche Versorgerleitbild und seine familienrechtlichen Regelungen.

Den Versuch, Unterhalt geltend zu machen, unterließen ostdeutsche Eheleute oft, egal ob beide arbeiteten oder nicht. Es gab sogar eine ausgeprägte Neigung, darauf zu verzichten – selbst bei Not oder Berufs- und Erwerbsunfähigkeit. Wies eine Juristin oder ein Jurist auf die Tragweite eines solchen Verzichts hin, erklärten die scheidenden Eheleute bisweilen, sie beabsichtigten schließlich nicht, ihren Beruf aufzugeben.

Richterin Hanna Nordmann meint, die „Wende“ habe in den vergangenen Jahren auch im Westen einen Bewusstseinswandel befördert. Das Verständnis dafür, dass Frauen arbeiten und die Kinder in eine Krippe gehen könnten, sei gewachsen. Die Realität ist auch, dass das Familieneinkommen selten ausreicht, in der Regel müssen beide arbeiten, weil ein Gehalt nicht mehr genügt. Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums werteten 2015 über 56 Prozent der West- und 77 Prozent der Ostdeutschen das System der Kinderbetreuung und die Frauenerwerbstätigkeit in der DDR als „positive Impulse für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ und als Gleichstellungsgewinn für die gesamtdeutsche Gesellschaft.

Der Transfer zwischen West und Ost war keine Einbahnstraße. Beim Vereinigungsprozess wurden nicht lediglich westdeutsche Normen und Werte auf den Osten übertragen. Die innere Emanzipation der ostdeutschen Frauen überdauerte den Systemwechsel und seine umfangreichen Brüche. Bis heute wirkt sie in die vereinigte Gesellschaft hinein.

* Die Namen der Interviewten wurden geändert

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