Kinder und die Macht

Mitspracherechte für Kinder Der UN-Kinderreport bemängelt, dass die Kleinsten in der Gesellschaft keine Stimme haben

Wo Kinder gefragt, ihnen zugehört, mit ihnen beraten wird, handeln Entscheidungsträger mehr im Sinne und zum Wohle von Kindern. Schließlich sind sie es, die immer auch die Folgen von Fehlentscheidungen, vor allem aber von Nichtbeachtung ihrer besonderen Bedürfnisse, zu tragen haben. Deshalb sollen Kinder mehr mitbestimmen dürfen - das ist die Grundaussage des vergangene Woche erschienenen Unicef-Berichts Zur Situation der Kinder in der Welt 2003.

UNO-Generalsekretär Kofi Annan spricht im Vorwort davon, dass "in einer Zeit, in der die Rechte der Kinder zwar weltweit anerkannt sind, aber dennoch Tag für Tag auf der ganzen Welt systematisch missachtet werden" man den Schwerpunkt für die Aufgaben des nächsten Jahrzehnts darauf setzen müsse, Kinder bei der Schaffung einer besseren Zukunft zu beteiligen. So verpflichteten sich die Staats- und Regierungschefs aus 186 Ländern beim Weltkindergipfel der Vereinten Nationen im Mai denn auch, "die Dinge nicht nur für Kinder, sondern mit Kindern zu verändern, eine Welt zu bauen, in der Kinder leben können". Zunächst einmal ist diese Aussage das Eingeständnis des Scheiterns. Erwachsene konnten keine menschenwürdige Welt schaffen, nun sollen die Kinder retten, was noch zu retten ist und bei der Gestaltung ihres Lebensumfelds endlich aktiv werden dürfen. Grundvoraussetzung für die Mitbestimmung von Kindern in der Gesellschaft ist die Bereitschaft der Erwachsenen, sie zu beteiligen.

So ist das Plädoyer im Unicef-Bericht für das Zuhören, Kinder liebevoll, förderlich und kreativ zu stärken, fast eine Beschwörung - die Beschreibung einer Utopie. Aber es gibt viele gelungene Beispiele von Kinderbeteiligung: Jungen in Pakistan kümmern sich darum, dass auch Mädchen die Schule besuchen können, in Nigeria arbeiten Kinder bei Impfprogrammen für Babys mit, im indischen Kalkutta führte das Anhören von Kindern dazu, dass Polizisten in Kursen lernen, die Rechte von Kindern und jugendlichen Straftätern zu respektieren und Kinder nicht wie Verbrecher zu behandeln. Fast alle gelungenen Beispiele sind aus den Entwicklungsländern, wie sieht es in den Industriestaaten (nur 30 der 189 Staaten der Welt zählen dazu), wie bei uns aus?

"Die relative Unsichtbarkeit der eigenen Erfahrungen und Einsichten der Kinder in allen politischen und gesetzgeberischen Foren hat zu einer Politik geführt, die Kinder diskriminiert", sagt die ehemalige Präsidentin des Europäischen Parlaments, Nicole Fontaine. "Nirgendwo ist das offensichtlicher als in der Wirtschaftspolitik, wo mangelnde aktive Berücksichtigung der Situation von Kindern für einen untragbaren Anstieg der Kinderarmut in der gesamten Europäischen Union verantwortlich ist."

Was im ersten Kinderreport Deutschland, im November herausgegeben, nachzulesen war, stellt vor allem fest, wie wenig Raum Kindern zugestanden wird - im manifesten wie im übertragenen Sinn. Verkehrsunfälle sind Todesursache Nummer Eins im Kindesalter. Die Erwachsenen gestalten öffentliche Räume ohne Rücksicht auf Kinder katastrophal: der schnelleren Fortbewegung der Erwachsenen werden Ruhe, Bewegungsfreiraum und saubere Luft geopfert. Ein Stellplatz für ein Auto hat eine durchschnittliche Größe von 26 Quadratmetern, ein Kinderzimmer acht. Kinder verbringen heute 80 Prozent ihrer Zeit in Innenräumen.

Die Akademie für Kinderheilkunde und Jugendmedizin fordert deshalb von den Verantwortlichen, dass Straßen in Wohngebieten wieder vorrangig zu Lebensräumen werden, dass bei allen Verkehrs- und Raumordnungsplanungen Kinderverträglichkeitsprüfungen vorgenommen, dass Lärm und Luftverschmutzung durch Verkehr verringert werden müssen und bis zum Jahr 2005 in allen Wohngebieten Tempo 30 gelten soll.

Kinder, die sich für ihre Umwelt engagieren möchten, können mit Unterstützung von Greenpeace ein Greenteam gründen. Manche Greenteams untersuchen die Wasserqualität an ihrem Ort, krempeln ihre Schule auf umweltfreundliche Produkte um oder - wie kürzlich erfolgreich in Frankfurt/Oder geschehen - protestieren gegen eine Erhöhung von Fahrpreisen.

Eine andere Möglichkeit der Mitbestimmung sind Kinderparlamente oder Jugendgemeinderäte, die es in einigen Städten gibt. Über Kinderbüros, die Jugendstadträte oder die Schulen können sie mit einem bestehenden Kinderparlament Kontakt aufnehmen oder sie können Erwachsene auffordern, ein solches einzurichten. Durch Anregung des Kinderhilfswerks wurden in einigen Städten öffentliche Kinderversammlungen im Gespräch mit dem Bürgermeister durchgeführt, in anderen Städten Bürgermeistersprechstunden nur für Kinder eingeführt.

Einiges würde sich ändern, wenn Kinder das Wahlrecht hätten. Dazu der Kinderreport: "Es könnte endlich das Problem diskutiert werden, dass der Generationenvertrag drei Generationen umfasst... Überall werden Senioren privilegiert, da sie wahlpolitisch von zentraler Bedeutung sind und die Gruppe der Minderjährigen sowohl aus dem pluralistischen Gesellschaftszusammenhang als auch der politischen Partizipation kategorisch ausgegrenzt und zur politischen Bedeutungslosigkeit ... verdammt ist."

Anfangen etwas zu verändern, können Kinder und soll jeder, im eigenen Lebensraum. Es ist nicht einfach, die eigenen Rechte und Bedürfnisse in der Familie zu erkämpfen. Viele Kinder leiden darunter, dass zu Hause keine Gespräche stattfinden, jeder im eigenen Zimmer vor dem Fernseher sitzt und sie kaum Kontakt zu ihren Eltern haben. Wenn Kinder dann gemeinsame Zeit einklagen, fühlen sich Eltern manchmal angegriffen. Sofort ändert sich vielleicht manchmal nichts, aber der Anfang ist gemacht.

"Ihr nennt uns Zukunft, aber wir sind auch die Gegenwart" (aus der Erklärung der Kinder vom Mai 2002). Es bleibt noch viel zu tun: Ein Rechtsgutachten des Völkerrechtlers Alexander Lorz kommt zu dem Schluss, dass Kinderrechte in Deutschland übergangen werden. Sichtbar werde dies vor allem in der anhaltenden Benachteiligung von Flüchtlingskindern und der schon erwähnten mangelnden Berücksichtigung von Kinderinteressen in Stadt- und Verkehrsplanung. "Jede Missachtung des Kindeswohls verstößt gegen das Völkerrecht", so Lorz. Dabei hat Deutschland schon vor zehn Jahren die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert, wie übrigens alle Staaten der Welt mit Ausnahme der USA und Somalias.

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