„Awareness ist ein Prozess“

Festival Das „Jenseits von Millionen“ steht schon lange für beste Entdeckungen aus Indie, Pop, Rock und Punk. An jedem ersten Augustwochenende feiert es in der ostdeutschen Provinz das schöne Leben - und ist auf dem Weg diverser zu werden.

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„Nee“ antwortet die Verkäuferin der Bäckerei am Markplatz auf die Frage, ob sie nachher auch zum Festival gehen würde. Sie habe eine 80-Stunden-Woche hinter sich und mache jetzt bald zu. Es ist Samstag 13 Uhr im Niederlausitzer Städtchen Friedland. Die letzten Kunden nehmen einen Kaffee mit oder ein Brot für´s Wochenende. „Aber mein Sohn geht hin“, ergänzt die Einheimische und meint zum ersten Tag des Festivals, mit der Lautstärke sei es gestern Abend eigentlich gegangen. Sie wäre bei ihren Eltern gewesen, die Mutter 86, der Vater 90 Jahre alt. Dieser habe selbst einmal Musik gemacht, im Faschingsverein des Ortes. Saxophon, Klavier, Keyboard, Klarinette und Akkordeon könne er spielen. „Lass die mal machen“, meinte der Vater nur, als er gestern Abend wohlwollend die Fenster schloss, weil die jungen Leute auf der Burg noch gefeiert haben.

Die Nerven rocken die Nacht

Vielleicht war es „Die letzte Rockband Europas“, die sich da des Nachts in stilvoller Turbulenz bis in die Wohnzimmer der Niederlausitzer spielte. Denn im Innenhof der nahegelegenen Burg hatten Die Nerven als letzter musikalischer Act des ersten Festivaltages die Feiernden zum chillig entgrenzten Pogo gebracht. Das Stimmungsbild am Folgetag: positiv. Alle Bands und Musiker*innen hätten sich als echte Live-Bands erwiesen, so die Aussagen einiger Jenseits-Besucher*innen. Von Anfang an wäre getanzt worden. Donkey Kid und Pauls Jets waren die persönlichen Neuentdeckungen einiger - Die Nerven das Highlight aller.

Vor allem aber sei es die familiäre Atmosphäre, die dieses klein gebliebene Festival ausmache. „Alle kommen dir entgegen und lachen dich erstmal an“, fassen das Anne und Sophia zusammen. Sie sind aus Berlin angereist und das erste Mal beim Jenseits von Millionen. „Wir wollten einfach auf ein kleines Festival“, erzählen sie, „weil doch die großen manchmal einfach zu stressig sind.“ Sie haben auf dem Zeltplatz übernachtet, sich auch dort sehr wohl gefühlt und sitzen nun, am frühen Nachmittag, im liebevoll geschmückten Chill-Out-Bereich der Burg zwischen Schilfmatten, Wimpeln und Glitzerbändern. Umgeben von Menschen, die schon eine Kleinigkeit vom Crêpe-Stand, Eiswagen oder Papa Africa Kitchen zu sich nehmen. Oder noch selig verkatert, halb zu- oder abgewandt in ihren persönlichen Spaces lümmeln.

Die Schildkröte schafft Awareness

Es ist ein sichtbar erklärtes Ziel der ehrenamtlich engagierten Festival-Veranstalter*innen: Besucher*innen sollen nicht nur mit der Musik und Show zufrieden sein. Es soll auch ein Raum geschaffen werden, in dem sich alle wohl und sicher fühlen. Jede Person, die beispielsweise eine der blauen Dixie-Toiletten auf der Burg oder dem Zeltplatz benutzt, liest dort auf einem Zettel an der Innentür eine wichtige Regel: „Nur ja heißt ja!“ Und wer Hilfe braucht, fragt nach der Schildkröte. „Das“, sagt Katja, die am Wochenende als Teil vom sechsköpfigen Awareness Team den Button mit der Schildkröte trägt, „haben wir uns ein bisschen beim Immergut abgeguckt". Die hätten ein ziemlich gutes Awareness Team, das als Symbol und Erkennungszeichen das Gürteltier trage.

Katja schrieb das Awareness Konzept für das Jenseits von Millionen und ging gemeinsam mit zehn anderen Menschen vom Verein „anderes Festival e.V.“ zu einer Awareness Schulung der Organisation act-aware. Diese unterstützt Veranstalter*innen bei der Entwicklung eigener Awareness Konzepte. In der Schulung, sagt Katja, sei deutlich geworden, dass Awareness ein Prozess sei. Den könne nicht eine Person allein antreiben, sondern müsse vom gesamten Team mitgetragen und gestaltet werden. „Wir können definitiv auch nicht alles sofort umsetzen“, ergänzt sie. Dafür sei ihr Verein noch gar nicht divers genug gestaltet, merkt sie selbstkritisch an. Auch beim Line-Up seien sie noch nicht ganz an dem Punkt sind, wo sie sein wollen, fügt sie hinzu. Anfang und Weg sind eins.

Underground im Gotteshaus

Mit minimalistischem Set Up haben die Nunofyrbeeswax inzwischen den zweiten Tag des Festivals eröffnet. Kurz darauf betritt die junge Autorin Leah Nlemibe die kleine Lesebühne im Innenhof der Burg. Sie ist eine von drei Autorinnen, die heute ihre Geschichten zum Thema Traum vorlesen, die vom Verlag Literarische Diverse veröffentlicht werden. Das gleichnamige Magazin publiziert vor allem Beiträge von Autor*innen und Illustrator*innen marginalisierter Gruppen, um die vielfältigen Realitäten Deutschlands sichtbar zu machen. Neugierige rücken sich einen blauen Liegestuhl zurecht. Andere Festivalbesucher*innen laufen die schmale Straße über das Kopfsteinpflaster hinauf zur hellen Kirche am Marktplatz.

Sie ist heute die zweite musikalische Spielstätte des Jenseits. Wer von den knapp 3000 Einwohner*innen des brandenburgischen Städtchens kommen mag, hat hier freien Eintritt. Bald schon sitzen Einheimische, Großstädter und Weltenbummler*innen gemeinsam auf den schlichten Bänken des Gotteshauses. Sie lauschen den Liedern der noch unbekannten Singer-Songwriterin Juno Lee. Nach dem Auftritt stehen vier ältere Friedländerinnen im Kirchengang beisammen. „Wir kommen immer", spricht eine der Damen für alle, „jedes Jahr!". Schön sei der Auftritt gewesen. Alle nicken. So eine klare Stimme habe die Künstlerin gehabt. Das Nicken wiederholt sich. Am Ausgang nimmt sich Jede noch einen Glitzersticker mit.

Völlig gebannt steht zwei Stunden später die 74-jährige Anne-Marie an der Empore. Sie schaut auf den gebürtigen Australier Jarrod M. Mahon alias Emerson Snowe, den die Jenseits-Macher im Berliner Untergrund entdeckt haben. Ekstatisch und raumdurchdringend performt er den Refrain seines Songs „Goodnight Sleepwalker“, um dann wieder mit sanfter Stimme wie in sich selbst zu versinken. Kurz geschoren das Haar, Dave-markant sein Halt am Micro. „Boah“, sagt Anne-Marie nach dem Auftritt des charismatischen Künstlers, der sein schmales Audio-Equipment und die schwarze Lederjacke vom Bühnenteppich vor dem Altar nimmt. Die 74-Jährige streicht sich über den Arm und sagt: „Gänsehaut“! Sie sei nicht aus Friedland, sondern hier bei Freunden nebenan zum Grillen eingeladen. Sie habe gar nicht gewusst, dass hier heute was los sei! Als sie aber die Musik vom Garten aus hörte, habe sie nicht anders gekonnt und musste doch mal gucken kommen. „Boah“, sagt sie noch einmal und steigt die Holztreppe der Empore wieder hinab.

Mit Catt hinaus auf´s Meer

Vor der Kirche, auf einer Bank, sitzen Kay und Klaus. Sie kommen aus Leipzig und sind gestern mit dem Zug angereist. Via Cottbus, Eisenhüttenstadt, Beeskow. Mit dem 9-Euro-Ticket. Auch ihnen hat der Auftritt gefallen, „der Sound war echt super“, wie beim ganzen Festival. Klaus erzählt, dass sie einen chilligen Vormittag hatten: Frühstück beim Bäcker, Spaziergang zum See, mit Äpfeln von den Bäumen, selbst gepflückt. „Ich liebe Brandenburg!“, sagt er irgendwann im Laufe seiner Reise- und Wochenendbeschreibungen.

Als Catharina Schorling alias Catt als letzter Act des Line-Ups in der Kirche die Bühne betritt, strahlt bereits die Abendsonne durch die Spitzbogenfenster in das hohe Haus hinein und erzeugt stimmungsvolle lange Schatten. Catt sitzt barfuß am Klavier. Sie zaubert einen Loop aus ihren Händen und durchflutet mit heller Stimme den Raum. „Hättet ihr Lust, mit mir auf´s Meer zu fahren?“, fragt sie in der Anmoderation ihres nächsten Liedes. „Wir kommen auch wieder. Versprochen.“ Dann erklingt ihr Song „Drive me to the sea“. Tatsächlich fühlt es sich an, als ließe sie mit ihrer Musik das Kirchenschiff fahren, als könne sie auch das Meer bewegen. Über die Loop Station spielt sie die Trompete ein, darauf die Posaune. Danach moderiert sie ihr Lied „The Space“ an. „Es erzählt von dem Space in uns drin“, sagt sie dazu, „auf den wir immer zurückgreifen können.“ Wieder schickt sie die Menschen auf die Reise. Zu sich selbst und allem, was gößer ist als sie. Am Ende ihres Auftrittes: tosender Applaus und Pfiffe der Begeisterung. Catt springt auf und verbeugt sich, die Hände auf dem Herz gekreuzt.

Den Sommer feiern und die Wut zelebrieren

Blaue Stunde, weiße Latzhosen. Sharktank aus Wien betreten auf der Burg die Bühne, die Thala und Nand zuvor bespielten. Es wird getanzt, die Stimmung flirrt zu groovigem Pop-Sound-Beat, Gesang und Rap. In fünfköpfiger Tour-Besetzung spielt die Band genau das, was ein kühl-melancholisch-verbindender Sommerabend braucht: den Sound, zu dem Menschen „trotz allem in der Welt“ eine gute Zeit miteinander haben.

Die Nacht umhüllt die lauschige Burg und Großes liegt in der Luft. Die Band Gustaf checkt den Sound. Die vier Frauen und ein Mann aus New York City arbeiten sich durch ihre Instrumente. Stilikonisch kommt die bühnenpräsente Frontlinie aus Gitarrist Vram Kherlopian, Sängerin Lydia Gammill und Tarra Thiessen daher. Eine optische Mixtur aus Beatle, Punk und Dekadenz. Eine Ansage würden es Brandenburger vielleicht nennen, als Schlagzeugerin Melissa Lucciola zum Sound Check in die Drums knallt. In Bluse über´m weiten Sakko, schwarz-weißen Dr. Martens und zwei geflochtenen Schulmädchenzöpfen gibt Gammhill letzte Anweisungen für ihre Monitorbox.

Was dann folgt ist pure Post-Punk-Manie. Ihr energetisches Zentrum: Gammhill, die mit ihrem ganzem Körper, ihrer Stimme und einem stechend provozierendem Blick das Publikum in den Bann zieht. Die Frontfrau fasziniert und irritiert. Erzeugt Nähe, verkörpert Wut, verursacht Schmerzen. Sie schlägt sich mit der Hand an den Kopf und singt „I want you happy“, holt ihre Querflöte hervor, spielt sie entspannt, steckt sie weg, schlägt sich wieder. Ob Thiessen diese Exzentrik mit ihren Glam-Fun-Parts durchbricht oder potenziert, ist kaum auszumachen. Nonchalantes Lächeln, tief verzerrte Backing-Vocals. Trillerpfeife, Ringrassel, Hahnenschreigummipuppe. Moshpit in Staubwolke. Wut und Spaß in den Beinen. Glamour im Castle. Gustaf steuern mit ihrem Song „Best Behavior“ auf das Ende ihrer Show zu. Ihr Kultstatus ist längst erspielt.

Swutscher übernehmen die Burg

Hier ein bierseliges Expertengespräch über No Wave. Da ein Blick auf die Uhr, um den letzten Zug nach Berlin nicht zu verpassen. Blickt man auf den Tag zurück, war es bereits auffällig normal, Frauen wie Männer auf den Bühnen zu sehen und an diversen Instrumenten. Noch nicht ausgeglichen und doch - anderen Festivals um Jahre voraus. Auch am zweiten Festivaltag haben sich viele Künstler*innen als gute Livebands und -musiker*innen erwiesen. Inzwischen geht es auf Mitternacht zu und die Festivalmacher*innen und ihre freiwilligen Helfer*innen kommen auf die Bühne. Sie geben Einblick in das, was herausfordernd war, und was gelungen ist. Gebührender Applaus.

Katja vom Awareness Team erzählt in der Woche danach, dass es sehr gut gelaufen sei. Nach der Schildkröte habe niemand gefragt. Gemeldete Fälle habe es nicht gegeben. Dennoch hätten sie Anregungen bekommen und sehr viel gelernt. Auch später kann man dem Awareness Team noch schreiben. Für Fragen, Kritik oder Hilfe, die jemand braucht, ist eine eigens dafür angelegte E-Mail Adresse auf der Jenseits von Millionen Internetseite hinterlegt. Auch so wird das Danach zum Davor für das kommende Jahr. Und der Prozeß hin zu mehr Vielfalt für alle zur Chance. „Unser Ziel ist es", sagt Katja, „dass auch unser Publikum diverser wird".

Das gemütliche Coffee-Bike wird durch den backsteinroten Torbogen aus der Burg hinausgefahren. Auf den Parkplätzen des Städtchens stehen Mopeds und viele Autos mit den Kennzeichen der Landkreise Oder-Spree, Dahme-Spreewald und Spree-Neiße. Ein junger Mann war vor einigen Stunden kurz zu seinem Auto zurück gegangen, um sich eine Jacke überzuziehen. Worauf er sich heute freue? "Swutcher", war seine knappe grinsende Antwort, bevor er sich ans Basecap tippte und „durch die wilde Prärie" zur Burg zurück lief. Vielleicht war´s ja der Sohn der Bäckersfrau. Ob der Großvater sein Fenster wieder schließen würde? Gut möglich, dass er für den Spelunken-Rock der angesagten Nordnasen, die nun unter´m Friedländer Sternenhimmel spielten, das Fenster einfach offen ließ.

Letzte Änderungen am Text: 20.05.2023

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