Den Menschen sehen

Trauma Millionen Menschen konnten sich durch die Flucht aus der Ukraine in Sicherheit bringen. Sie haben oft Traumatisches erlebt. Was ist, wenn das Trauma bleibt und auch Helfer Hilfe brauchen? Ein Interview mit der Psychologin Johanna Fagiani

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Geflüchtete am Berliner Hauptbahnhof, März 2022
Geflüchtete am Berliner Hauptbahnhof, März 2022

Foto: Steffi Loos/Getty Images

Johanna Fagiani begleitet seit vielen Jahren Menschen mit Fluchterfahrungen und hat tiefe Einblicke in die Prozesse seelischer Verletzung und Selbstheilung. Sie weiß, dass Trauma Überleben sichert, eine große menschliche Leistung ist und „anstecken“ kann. Ein Gespräch über Menschen, die fliehen mussten und Menschen, die helfen wollen und das verbindende Motiv der Selbstwirksamkeit.

Frau Fagiani, seit der russischen Invasion der Ukraine haben über 3,5 Millionen Menschen das Land verlassen. Sie konnten durch die Flucht ihr Leben retten. Wie verarbeiten Menschen solche lebensbedrohlichen Ereignisse?

Johanna Fagiani: Ganz unterschiedlich, weil Menschen ja unterschiedlich sind. Generell lässt sich sagen, dass wir Riesenfähigkeiten haben, solche Ereignisse auch psychisch zu überstehen. Die Kapazitäten, so etwas zu verarbeiten, hängen auch von den Ressourcen ab, die die Menschen mitbringen und davon, was sie vorher in ihrem Leben erlebt haben. Menschen erleben auch innerhalb eines Krieges so viel Verschiedenes und nicht alle, die jetzt geflohen sind, haben vorher etwas Traumatisches erlebt. Das kann man also nicht verallgemeinern.

Haben sie aber etwas Traumatisches erlebt, reagieren die meisten Menschen mit einer, wie wir das im klinischen Kontext nennen, akuten Belastungsreaktion. Das heißt, der Körper versucht sich erstmal vor einer erneuten Traumatisierung zu schützen. Die Menschen sind dann auf einem hohen Erregungsniveau, überprüfen immer wieder, dass sie sicher sind, reagieren zum Beispiel sehr intensiv auf gewisse Geräusche oder Gerüche und können nicht gut schlafen. Es gibt auch so etwas wie ein Wiedererleben des Ereignisses. Dann denken die Betroffen immer wieder daran oder Bilder kommen immer wieder hoch. Das alles sind Hinweise des Körpers: Sei weiter vorsichtig! Der Körper versucht uns also auf eine sinnvolle Art und Weise zu schützen.

Geflüchtete Frauen, die hinter der Landesgrenze ankamen und von Reportern gefragt wurden, wie es ihnen geht, konnten diese Frage manchmal gar nicht beantworten. Sie hätten ihre Sachen gepackt, die Kinder genommen, einfach funktioniert. Auch das war eine sinnvolle Reaktion des Körpers, oder?

Fagiani: Absolut. Das ist ja Trauma, dass dieser wahrnehmende Aspekt abgespalten wird. Während einer traumatischen Situation kommt es zu einer Dissoziation, das heißt zu einer Trennung von Gehirnbereichen: dem in der Not schnell agierenden Gehirnbereich und dem wahrnehmendem, bewussten Gehirnbereich. Diese Trennung passiert, damit wir sofort flüchten können. Wenn ich erst darüber nachdenke, in welche Richtung ich jetzt laufe, dauert das zu lange. Die Dissoziation - sei es in einer isolierten Situation oder auch über einen längeren Zeitraum - ist überlebenssichernd. Es ist also sinnvoll, dass das Fühlen ausgeschaltet wird. Das hält oft solange an, bis man wirklich in Sicherheit ist und Ruhe findet oder auch weiß, was mit den Verwandten oder dem Ehemann ist.

So kann das Fühlen auch erst später kommen?

Fagiani: Genau, das kann gut sein. Auch Monate später, manchmal Jahre. Eltern ist da ein großes Kompliment zu machen, weil sie es ganz oft schaffen, in belastenden Situationen ihre eigenen Emotionen erstmal komplett wegzuschieben und weiter für ihre Kinder da zu sein. Das ist eine Riesenleistung. Bei Frauen ist es oft so, dass sie Kinder kriegen, mit der Familie beschäftigt sind und irgendwann, wenn dann Raum dafür da ist, kommen die alten Gefühle hoch.

Was brauchen Menschen unmittelbar nach traumatischen Erlebnissen?

Fagiani: Generell natürlich erstmal alles, was die Basisbedürfnisse befriedigt: essen, trinken, schlafen. Darüber hinaus ist das von der Persönlichkeit abhängig. Es gibt Menschen, die haben ein ganz großes Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe und es gibt Menschen, die wollen sich ablenken und weiter aktiv sein. Es ist deshalb schwierig, zu beantworten, was Menschen allgemein brauchen. Dafür sind wir zu komplex. Es ist gut über die Basisbedürfnisse hinaus mit den Menschen zu sprechen, sie zu fragen, was sie gerade möchten. Trauma bedeutet ja Kontrollverlust und Ohnmacht. Und alles, was wir als Helfende oder professionell Tätige danach tun können, ist diese Ohnmacht zu reduzieren. Das bedeutet vor allem, nicht über den Kopf von Menschen hinweg zu handeln. Die Menschen, die jetzt geflohen sind, wissen, dass sie für ihre Verwandten in der Ukraine im Moment nichts oder nur sehr wenig tun können. Sie können aber hier auf vielen anderen Ebenen Entscheidungen treffen. Und damit erfahren: Ich bin nicht allem in meinem Leben komplett ausgeliefert. Es geht darum, den Menschen Selbstwirksamkeitserfahrungen zu ermöglichen.

Wie verarbeiten Kinder solche Erlebnisse?

Fagiani: Kinder verarbeiten Erlebnisse anders als Erwachsene. Natürlich auch in Abhängigkeit davon, was sie vorher erlebt haben und wie alt sie sind. Das Tolle an kleinen Kindern ist: Sie sind oft mehr im Hier und Jetzt als Erwachsene. Das wird ihnen ein Stück weit zum Vorteil. Sie sind von Emotionen leicht ablenkbar und können Erlebtes hinter sich lassen. Für sie drängt sich das Erlebte nicht immer wieder in Sorgen um die Zukunft oder Gedanken an das Alte auf. Ihre Sorgen zeigen sich auf anderer Ebene. Kleine Kinder somatisieren häufiger. Das heißt, sie drücken sich eher über den Körper aus. Sie haben dann unkonkrete Alpträume, Kopfschmerzen oder sagen, mein Bauch tut weh. Aber Kinder haben auch andere Ressourcen als Erwachsene. Sie stellen zum Beispiel im Spiel Szenen nach und verarbeiten ihre Eindrücke eher spielerisch. In belasteten Zeiten hilft ihnen auch ihre Fantasie. So erfinden Kinder zum Beispiel Fabelwesen, die dann bei ihnen sind und Halt und Kraft geben.

Wenn Kinder schon etwas älter sind, ist es herausfordernder. Im frühen Jugendalter suchen sie bereits die Abgrenzung zu den Eltern. Junge Menschen versuchen ihre eigene Identität zu bilden. Erleben sie in dieser Zeit etwas Traumatisches, sind sie innerlich oft hin- und hergerissen. Denn plötzlich kommen sie in eine Situation, in der sie merken: ich brauche meine Eltern gerade so sehr, weil ich auch Angst habe. Diese Abhängigkeit ist eine große Ambivalenz. Denn eigentlich wollen sie von ihren Eltern nicht mehr so gerne fremdreguliert werden und sich auch nicht eingestehen, dass sie diese emotionale Nähe brauchen. Gleichzeitig haben junge Menschen, anders als Erwachsene, oft noch nicht so viele Strategien entwickelt mit Emotionen umzugehen.

Von Anfang an gab es Berichte darüber, dass Menschenhändler die Not kriegsgeflüchteter Frauen und Kinder auszunutzen versuchen. Nun wird der Schutz von Frauen und Kindern verstärkt. Warum sind diese Gruppen besonders gefährdet?

Fagiani: Weil wir in einer patriarchalen Gesellschaft leben. Da sind Frauen und Kinder per se gefährdeter, Opfer von Gewalt zu werden. In so einer Situation verstärkt sich das, weil die Ressourcen von Frauen wegfallen, die Sicherheit bringen: finanzielle Ressourcen, sich auszukennen, die Sprache zu sprechen. Wenn man in dem jeweiligen Ort, in dem man landet, alleine ist, sich nicht zurecht findet und darauf angewiesen ist, fremden Menschen zu vertrauen, ist man verletzlich. Solange private Menschen an diese Orte kommen, weil die Wohlfahrtsorganisationen oder andere strukturierte Organisationen die Orientierung und Versorgung nicht leisten, bleiben die Geflüchteten natürlich abhängig von denen, die da sind. Das ist eine sehr gefährliche Situation. Das haben Menschen schon immer ausgenutzt.

An anderen Orten wird das schon lange praktiziert. Viele junge Frauen, mit denen ich gearbeitet habe, sind vor allem durch Libyen gereist. Dort haben allein reisende Frauen in fast allen Fällen sexuelle Gewalt erlebt. Wir wissen, dass Frauen auf der Flucht oft an Menschenhändler geraten und dann in sexuellen Ausbeutungssituationen landen. Ich kann keine Aussage darüber treffen, wieviel Gewalt gegen Frauen auf den neuen Fluchtkorridoren passiert. Aber es hat bestimmt auch etwas Schützendes, wenn große Gruppen unterwegs sind.

Unter den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine sind Angehörige sogenannter Drittstaaten, etwa die Hälfte von ihnen internationale Studierende. Sie haben auf der Flucht zum Teil massive rassistische Erfahrungen machen müssen, sind also auch besonders gefährdet.

Fagiani: Ja, einiges, was die Menschen erlebt haben, ist ganz extreme rassistische Gewalt, also eine traumatisierende Erfahrung in sich. Das hat natürlich Konsequenzen für diese Menschen. Denn es ist sehr drastisch: Man ist auf dem Weg, sein Leben zu retten und macht innerhalb dieser Erfahrung die Erfahrung, dass das eigene Leben viel weniger Wert ist als das Leben anderer Menschen. Für die meisten Menschen wird es nicht die erste rassistische Erfahrung sein. Das wäre eine Illusion. Aber in dieser Intensität, in diesem bestehenden Hochstress, der für die Menschen da war und ist, hat das nochmal viel drastischere Auswirkungen.

Zumal unter den Drittstaatenangehörigen auch mehrere tausend Menschen waren, die schon einmal vor einem Krieg fliehen mussten.

Fagiani: Und es kostet viel Energie nach einer traumatischen Erfahrung, wieder dahin zu kommen, sich sicher zu fühlen. Wenn dieses Gefühl noch einmal erschüttert wird, ist es danach natürlich doppelt schwierig, dieses Sicherheitsgefühl für sich wieder herzustellen. Die Schwelle dafür, wieder in diese Übererregung zu kommen, in diese Gefühle von Ohnmacht und Angst, ist bei Menschen, die schon einmal etwas Schlimmes erlebt haben, viel niedriger. Je häufiger ich Traumatisches erlebe, desto geringer wird diese Spanne, in der ich mich selber wieder gut beruhigen kann.

Viele geflüchtete Menschen macht das Erlebte auch krank. Das heißt, nicht alle erholen sich von selbst.

Fagiani: Das stimmt, statistisch gesehen entwickeln 50 Prozent der Menschen, die Opfer von Krieg, Vertreibung, Folter oder einer Vergewaltigung geworden sind, eine Posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS. Das ist eine „Störung“ - die ich gern in Anführungszeichen setzen würde. Denn ich finde es schwierig, bei etwas, was 50 Prozent der Menschen erleben, von einer „Störung“ zu sprechen. Die Störung, oder das Gestörte ist für mich eher das traumatische Ereignis an sich und nicht die Reaktion der Menschen darauf. Die akute Belastungsreaktion ist, wie schon erwähnt, zunächst ein Hinweis meines Körpers: Sei weiter vorsichtig! Und das ist ganz normal. Wenn diese aber nicht abklingt, mein Körper also nicht merkt, ich bin jetzt sicher, dann spricht man von einer PTBS. Die Symptome der Übererregung, des Wiedererlebens, die Vermeidung von Reizen, die an das traumatische Erleben erinnern, bestehen weiter fort.

Wenn das, sagen wir mal, über zwei Monate hinaus geht, könnte man eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostizieren. Und diese ist nur eine Art auf Trauma zu reagieren. Es gibt ganz viele andere Reaktionen. Menschen werden depressiv oder betäuben sich mit Substanzen, um es auszuhalten. Oder sie entwickeln psychosomatische Störungen, das heißt körperliche Schmerzen oder Taubheitsgefühle, für die es keine medizinischen Ursachen gibt.

Die Solidarität mit den Geflüchteten ist nach wie vor groß. Immer wieder haben Helfer*innen erzählt, sie hätten es nicht mehr ausgehalten, untätig zu Hause rumzusitzen. Sie sind spontan mit einem Bus voller Spenden in die Ukraine gefahren, haben an Bahnhöfen Kriegsflüchtlinge in Empfang genommen oder ihnen zu Hause Obdach gewährt. Warum tut helfen gut?

Fagiani: Viele schlimme Nachrichten zu sehen und nichts tun zu können, führt zu einem Gefühl von Ohnmacht. Um dieses unangenehme Gefühl zu reduzieren, werden wir aktiv. Das ist eine Motivation, warum Menschen helfen, und sich so wieder selbstwirksam fühlen. Gleichzeitig hat dieses Handeln etwas Sinnstiftendes. Wir Menschen haben das Bedürfnis unserem Leben eine Form von Sinn zu geben. Helfen tut gut, weil wir sagen können: Ich bin ein guter Mensch. Wir definieren uns damit auch ein Stück weit. Ob es reinen Altruismus gibt oder nicht, ist natürlich eine philosophische Diskussion. Im Endeffekt ist es egal, solange die Menschen ihre Hilfe auch reflektieren. Das heißt, es ist notwendig, zu gucken, bin ich mit dem, was ich da tue, wirklich hilfreich oder tue ich das nur für mich. Findet Austausch auf Augenhöhe statt und gibt es ausreichend Selbstreflexion, ist das Helfen absolut sinnvoll für beide Seiten.

Am Anfang waren es vor allem Freiwillige, die zum Beispiel am Berliner Hauptbahnhof die Erstversorgung für täglich tausende Kriegsflüchtlinge übernahmen. Später etablierten professionelle Anbieter ihre strategischen Hilfen vor Ort. Als eine Freiwillige von ihnen gefragt wurde, ob sie Hilfe brauchen würde, soll diese in Tränen ausgebrochen sein. Warum?

Fagiani: Trauma, also auch Situationen, in denen Menschen fliehen, haben eine unglaubliche Eigendynamik. Wir begegnen Menschen, die unter Hochstress stehen. Das löst in uns auch oft Hochstress aus. Vor allem, wenn wir nicht so geübt darin sind, im Hier und Jetzt zu bleiben und uns zu regulieren. Wir lassen uns dann von den Emotionen unseres Gegenübers sehr schnell mitreißen. Wenn wir das länger tun und zu sehr beim Gegenüber sind, ignorieren wir unsere eigenen Bedürfnisse und Gefühle. Grund ist auch hier die Dynamik von Dissoziation in unserem Gehirn. Fragt dann jemand aktiv danach, was man braucht, dann gibt es natürlich so einen Moment der Leere. Da kommt dann oft viel hoch. Weil gespürt wird, was im aktiven Handeln unterdrückt wurde. Genauso wie bei den geflüchteten Menschen.

Woran merken Helfer*innen, dass sie zu viel arbeiten?

Fagiani: Man kann das ganz gut daran merken, dass man auf seine körperlichen Bedürfnisse nicht mehr achtet. Wenn ich beispielsweise abends nach Hause komme und rückblickend feststelle: Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen. Ich bin in einer Dynamik von Hochstress, wenn ich es nicht schaffe, mir Pausen zu nehmen und zu gucken, was brauche ich gerade. Wenn ich nicht mehr gut schlafe, vielleicht auch wenig Appetit habe, nicht mehr zur Ruhe komme, die Arbeit oder das Denken daran zu viel Raum in meinem Privatleben einnimmt, dann arbeite ich zu viel.

Wie kann ich dem vorbeugen?

Fagiani: Tatsächlich erstmal durch die Basics: genug schlafen, Pausen machen, dafür sorgen, dass man genug isst und auf Toilette gehen kann. Man sollte weiter darauf achten, diese Gefühle, diese Bedürfnisse auch wahrzunehmen. Wichtig finde ich auch, sich untereinander auszutauschen und traumafreie Räume zu schaffen. Das heißt, Räume zu haben, in denen man sich mit Dingen beschäftigt, die nichts mit Gefahr, nichts mit Krieg, nichts mit Aktivismus zu tun haben. Das ist als Ausgleich sehr hilfreich. Jeder Mensch hat auch hier wieder seine eigenen Strategien. Die muss man für sich entwickeln, damit man danach wirklich gut unterstützen kann. Auch längerfristig.

Viele haben geflüchteten Menschen auch Wohnraum angeboten, einige für Tage oder Wochen. Andere wollen ihr zu Hause längerfristig teilen. Wie können Familien oder neue Mitbewohner*innen gut zusammenwachsen?

Fagiani: Ich finde es auf verschiedenen Ebenen sehr herausfordernd. Wenn man zusammenzieht, braucht man ja immer so eine Zeit der Gewöhnung. Normalerweise findet das auf Augenhöhe statt. Diese ist aufgrund der Situation verschoben. Es gibt jemanden, der helfen will und jemand, der Hilfe braucht. Das verstärkt zunächst auch diesen Kontrollverlust und diese Ohnmacht der geflüchteten Menschen, weil sie sich wieder weniger selbstwirksam fühlen. Damit sage ich nicht, dass man das nicht tun soll. Ich finde nur, dass man diese Situation reflektieren sollte. Menschen, die Menschen aufnehmen, sollten sehen, dass sich diese die Situation nicht ausgesucht haben. Sie sollten sich immer wieder bewusst machen, eigenständigen Persönlichkeiten zu begegnen. Diese haben ihren eigenen Willen, ihre eigene Profession und ich sollte ihre Würde in dem Sinne achten, dass ich nicht auf sie schaue als „die arme Flüchtlingsfamilie“, der ich jetzt helfe. Diese Dynamik wäre paternalistisch.

Das Paternalistische ist der Ausgangspunkt und die Selbstreflexion braucht es, um in dieser Dynamik nicht zu verharren?

Fagiani: Ja, der Ausgangspunkt ist, das ist mein Zuhause, mit meinen Abläufen und Regeln. Es geht darum, zu reflektieren, ich lade jemanden ein, der Bedürfnisse mitbringt, eventuell auch Bedürfnisse, die ich noch nicht kenne. Vielleicht möchte oder kann der Mensch gerade nicht reden, möchte auch nicht drei mal am Tag mit allen zusammen essen oder kann in seiner Traumatisiertheit sozialen Normen gerade nicht gerecht werden. Ich finde es wichtig, dass die Gastgebenden möglichst wenig erwarten. Wichtig ist auch, ein bisschen was über Trauma zu wissen und Grenzen zu achten. Ich sollte nicht so viele Fragen zum Krieg stellen, nicht aus Neugier fragen, was hast du erlebt. Das kann Emotionen „triggern“, die aus guten Gründen unterdrückt wurden, damit der Mensch weiter funktionieren konnte. Es braucht wirklich ein hohes Maß an Selbstreflexion, um mit dieser Situation gut klar zu kommen und viele Ressourcen. Im Idealfall auch eine fachliche Begleitung und ich glaube, ehrlich gesagt, auch viel Zeit.

Zum Stichwort Wissen: Es gibt nicht nur die Traumatisierung, sondern auch die Sekundärtraumatisierung. Was genau ist das?

Fagiani: Wenn man sehr intensiv mit traumatisierten Menschen zu tun hat, besteht die Gefahr, selbst Symptome zu entwickeln, die einer posttraumatischen Belastungsstörung ähnlich sind. Ich erlebe dann Ereignisse wieder, die ich selber gar nicht erlebt habe. Ich vermeide Dinge, bin schreckhaft oder kann nicht schlafen. Es sind quasi Folgen entstanden – ohne, dass ich selber was erlebt habe. Ein Trauma hat so starke Energien, dass es sozusagen „ansteckend“ ist.

Je näher wir den Menschen sind und je mehr Zeit wir mit ihnen verbringen und je detaillierter wir auch wissen, was sie erlebt haben, desto „gefährlicher“ ist das. Und umso wichtiger wird es, sich davor zu schützen. Das kann man tun, indem man mit den Menschen generell viel über das Hier und Jetzt oder die nahe Zukunft spricht. Für die Gesundheit beider Seiten ist es gut, wenig über die Vergangenheit zu reden. Das würde ich den fachlich versierten Leuten überlassen, außer man hat schon so eine gute Beziehungsbasis und die Menschen möchten darüber sprechen. Da kann man natürlich auf Impulse der Betroffenen eingehen und sollte zugleich für sich prüfen: Schaffe ich das gerade? Wenn ja, macht es Sinn, während des Gespräches zum Beispiel einen Igelball zu drücken oder ein Glas Wasser zu trinken. Damit sorgen wir dafür, unseren Körper in der Gegenwart zu halten und nur auf intellektueller Ebene in die Vergangenheit zu gehen.

Was wird also in Zukunft das Wichtigste in der Begegnung von geflüchteten Menschen und ihren Helfer*innen bleiben?

Fagiani: Dass wir versuchen - so komplex es auch ist - nicht zu pauschalisieren. Wir sollten nicht fragen, was brauchen die Menschen. Wir sollten auch weniger über die Menschen sprechen, sondern sie selbst zu Wort kommen lassen. Denn eine Dynamik von „die Flüchtlinge kommen“ hat etwas entmenschlichendes. Es geht also darum, sich immer wieder darauf zu konzentrieren, was die Individuen brauchen, damit wir den Mensch als Menschen sehen. Das Wichtigste ist, dass wir die „Agency“ der Menschen wahren, ihnen also selbstbestimmtes Handeln in Würde ermöglichen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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Johanna Fagiani arbeitet als Psychologin zu den fachlichen Schwerpunkten Trauma, sexuelle Gewalt, Menschenhandel und transkulturelle Kompetenz sowie traumasensitives Yoga und Geburt. Sie war Leiterin des psychologischen Dienstes der AWO in Dortmund, arbeitete im Klinikbereich zu Sucht und Psychosomatik und bildet als frei berufliche Trainerin Fachkräfte und Freiwillige der Flüchtlingshilfe weiter.

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