Rosarote Zahlen

DDR Wahlfreiheit? Gab es im Osten nicht. Im Westen ist es nicht besser, findet unsere Autorin
Ausgabe 10/2018

Als 1918 die Reichsregierung verkündete, dass bei den Wahlen 1919 erstmalig alle 20-Jährigen – also auch Frauen – wählen können, war meine Oma gerade 20 geworden. Sie hätte als Erstwählerin zu den ersten Frauen gehören können, die in Deutschland wählen durften. Meine Oma lebte aber als Nachfahrin ausgewanderter Schwaben in Bessarabien am Schwarzen Meer. Das war zu jener Zeit erst russisch und Ende 1919 rumänisch. Welche Staatsbürgerschaft meine Oma hatte, wo sie eventuell hätte wählen dürfen und ob sie es tat – ich weiß es nicht und kann auch niemanden mehr danach fragen. Sie starb in den 70er Jahren, weit weg, auf der anderen Seite der Mauer, in Baden-Württemberg, der Heimat ihrer Vorfahren.

In meiner eigenen Jugend in der DDR fand ich Wählengehen lästig. Es waren ja keine echten Wahlen. Meine Eltern und ich gingen stets erst kurz vor 18 Uhr ins Wahllokal. Gerade weil mittags der Bürgermeister anrief und auf die Bedeutung der stündlichen Meldungen zur Wahlbeteiligung hinwies. Und darauf, dass es schlecht aussähe, wenn mein Papa als Arzt mit Vorbildrolle so spät wählen ginge. Das nervte. Und es nervte, dass wir kaum etwas zu wählen hatten, sondern obendrein beim Wahlprozess bevormundet wurden.

100 Jahre Frauenwahlrecht

1918, vor einhundert Jahren, durften in Deutschland Frauen das erste Mal an die Wahlurne treten. Grund genug für die Freitag-Redaktion, zum Internationalen Frauentag die Hälfte dieser Ausgabe der Hälfte der Menschheit zu widmen: Frauen. Eine Ausgabe, die das Jubiläum von 100 Jahren Frauenwahlrecht zum Anlass nimmt, um sowohl an den Kampf von Frauen- und Wahlrechtlerinnen in Deutschland, England und der Schweiz zu erinnern als auch den Blick über die Historie hinaus zu weiten. Wir rücken den Druck, dem Frauen heute ausgesetzt sind, in den Fokus:

Wie sie es auch anstellen, irgendetwas daran ist immer falsch. Warum? Weil es kein eindeutiges Frauenbild gibt, so wie noch vor einigen Jahrzehnten? Dafür gibt es jede Menge vorherrschende, meist eindimensionale Zuschreibungen: Weibchen mit Kernkompetenz für Kinder, Küche, Vorgarten. Oder machthungrige Karrierefrauen, denen feminine Eigenschaften abhandengekommen sind.

Haben Frauen eine andere Wahl? Dürfen sie einfach so sein, wie sie nun mal sind: stark, schwach, Mutter, kinderlos, Chefin, Hausfrau? So unterschiedlich also wie das Leben selbst? Und eine Wahl jenseits der fakultativ-obligatorischen Möglichkeit, über den Bundestag, ein Kommunal- oder Landesparlament mitzuentscheiden?

Lesen Sie selbst!

Im Frühjahr 1989 studierte ich im Erzgebirge angewandte Kunst, als ich mit den Kommunalwahlen der DDR meine letzten unfreien Wahlen in der DDR erlebte. Ich war Studentensprecherin, Tage vor der Wahl sprach mich der Dekan an. Er hätte gehört, einige Studierende wollten die Wahlkabine nutzen. Das würde ein schlechtes Licht auf die Schule werfen, gerade jetzt, wo das Land so in Unruhe sei und die Partei genau hinschaue. Ich sollte doch auf meine Kommilitoninnen und Kommilitonen einwirken, das besser bleiben zu lassen. Ich guckte entgeistert, erwiderte so etwas wie „Wahlkabinen sind dazu da, dass man sie beim Wählen auch nutzt“. Natürlich gingen wir in die Wahlkabinen, viele von uns stimmten mit „Nein“ oder ungültig. Später wunderten wir uns über die veröffentlichten Zahlen: seltsam rosige Wahlergebnisse, die sich bald als gefälscht herausstellten. Sie wurden Öl im Feuer der Opposition und beschleunigten die Wende.

Und dann bekam ich ein Kind

Die folgenden 18 Monate kam ich aus dem Wählen gar nicht mehr heraus. Dreimal ging es 1990 in die Kabine, im März zu den ersten freien und insgesamt letzten Wahlen zur Volkskammer der DDR. Im Mai 1990 zur Wiederholung der Kommunalwahlen und im Dezember desselben Jahres zu den ersten Bundestagswahlen im vereinigten Deutschland. Endlich bedeutete Wählen mehr, als nur gegen etwas zu sein!

Ich hoffte auf ein starkes Ergebnis für die oppositionellen Kräfte in der DDR, in der Wendezeit hatte ich das Neue Forum unterstützt, das später im Bündnis 90 aufging. Stattdessen feierte Mitte-Rechts in Sachsen überwältigende Wahlerfolge. Ich war frustriert, verstand die Welt nicht mehr. Die Opposition hatte doch die Mauer zu Fall gebracht, als Dank dafür wählte eine Mehrheit die CDU und Helmut Kohl?

Ich hörte auf, mich politisch zu engagieren, studierte zu Ende, fand im Osten keine Arbeit und tat das, was viele junge Ossis damals taten – ich packte meine sieben Sachen und zog dahin, wo es Arbeit gab: in den Westen. Ich kam bei Freunden in der Nähe von Frankfurt am Main unter, fand schnell einen Job und studierte erneut, diesmal internationale Betriebswirtschaft. Ich fühlte mich frei und gleichberechtigt. Selbst nachdem ich 1997 bei einer Consulting-Firma meine Karriere als Unternehmensberaterin begann.

Ich bekam sehr gute Leistungsbewertungen und wurde regelmäßig befördert – bis ich ein Kind bekam. In den Jahren danach war ich froh, eine Art „ostdeutsches Teflon“ zu haben, an dem die seltsamen Vorwürfe und Kommentare abprallten, die ich mir ständig anhören musste. Ich habe mich oft gefragt, ob ich ohne meine Ostsozialisierung die gleiche Karriere hätte machen können. Oder ob ich angefangen hätte, zu glauben, ich sei eine Rabenmutter und selbst schuld daran, dass meine Karriere stockte, weil ich mich bei der Wahl zwischen Beruf und Familie ja selbst für Letzteres entschieden hätte.

Was für ein Unfug! Ich wähle ja gern, wenn es wirklich was zu wählen gibt. Aber zwischen Karriere und Familie will ich nicht wählen müssen – ich will beides. Aus DDR-Zeiten weiß ich, dass das geht. Frauen diese Art von Wahl aufzuzwingen, ist nicht mehr als ein Überbleibsel alter Zeiten. Mein Selbstverständnis als junge Frau mit Ostvergangenheit war mir daher sowohl Schutzschild als auch Kompass für die Marschrichtung: vorwärts gehen. Wer stehen bleibt, kommt nicht vom Fleck.

So betrat ich in westdeutschen Firmen Neuland, das für mich gar keins war. Bei einer war ich die erste Frau mit einem Kind, die weiterarbeitete. Ich war die erste Projektleiterin mit Kind beim McKinsey Business Technology Office in Deutschland. Ich ergriff Gelegenheiten beim Schopf und kam zu der Erkenntnis, dass ich mein Vorankommen nicht nur fachlicher Kompetenz verdankte, sondern insbesondere der Neigung, meine Erwartungen als selbstverständlich berechtigt zu betrachten – und Tatsachen zu schaffen. Das klingt nach, „frau muss nur wollen und einfach mal machen“. So wichtig „Wollen“ auch ist, das dazugehörige Selbstverständnis entsteht selten von allein.

Ohne meine DDR-Herkunft, ohne den Rückhalt durch meine Familie, hätte ich mich unter gleichen Bedingungen vielleicht anders verhalten. Ich frage mich daher oft, wie viele Potenziale von Frauen nie zur Entfaltung kommen, weil sie ein Umfeld haben, das sie zu einer unerwünschten Wahl nötigt: Karriere oder Kind. Weil ihnen schon in der Kindheit nach Geschlechtern segregiertes Spielzeug und später durch (fehlende) Vorbilder, Marketing und Medien vermittelt wird, was sie zu wollen und zu machen haben. Weil ihr Umfeld sie nicht bestärkt, sondern ausbremst.

Was folgt daraus? Die Erkenntnis, dass wir weiterhin Barrieren abbauen müssen, damit Frauen nicht nur an der Urne, sondern auch bei ihrem Lebensentwurf freier wählen können als bisher.

Anke Domscheit-Berg ist Unternehmensberaterin und Politikerin. Als Parteilose sitzt sie seit 2017 für die Linkspartei im Bundestag

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