Neuseelands Überfliegerin

Porträt Jacinda Ardern gilt nicht nur wegen ihres Covid-19-Kurses als erfolgreichste Regierungschefin der Welt
Ausgabe 23/2020
Bei 57 Prozent sehen Umfragen zur Wahl im September ihre Labour-Partei. Ardern hat sich das Gehalt gekürzt und eine 4-Tage-Woche vorgeschlagen
Bei 57 Prozent sehen Umfragen zur Wahl im September ihre Labour-Partei. Ardern hat sich das Gehalt gekürzt und eine 4-Tage-Woche vorgeschlagen

Foto: Hagen Hopkins/Getty Images

Als vorige Woche ein starkes Erdbeben die Umgebung von Wellington erschütterte und sich Tausende von Menschen unter Tische und Türrahmen flüchteten, blieb eine Person sichtlich cool. Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern saß in einem Fernsehinterview, lächelte souverän und gab zum Abschied das „Daumen hoch“-Zeichen – symbolisch für ihr Krisenmanagement der vergangenen Monate.

Der Abend vor Beginn des Lockdowns in Neuseeland war gespenstig ruhig: die Straßen wie ausgestorben, knapp fünf Millionen Menschen ab sofort auf unbestimmte Zeit daheim. In diese Stille schrillte am 25. März von allen Handys ein Alarmsignal. Es kam mit einer offiziellen SMS der Regierung über die Einschränkungen der nächsten Wochen. Wenig später konnte man die Verantwortliche für die SMS-Sirene live beim Facebook-Chat erleben. Ardern saß im Sweatshirt zu Hause, hatte Tochter Neve ins Bett gebracht und erzählte im Plauderton, dass es ihr genauso ginge wie allen in diesen Stunden. An jenem Abend zeigte sich, wie die Führungsstrategie der momentan erfolgreichsten Regierungschefin der Welt im Kampf gegen COVID-19 funktioniert: strenge Maßnahmen, flankiert von sanften Worten, dazu Social-Media-Kompetenz.

Arderns mutigster Schritt war die plötzliche Schließung der Grenzen eine Woche zuvor. Vier Millionen Reisende – die Einwohnerzahl beträgt knapp 4,9 Millionen – besuchen jedes Jahr Neuseeland. Nicht Lammfleisch, sondern der Tourismus ist Haupteinnahmequelle im Pazifik-Staat. Darauf zu verzichten, um Leben zu schützen, war wirtschaftlich hochriskant. Nur 48 Stunden blieben den Neuseeländern, bevor auch landesintern alles schloss. „Be kind“ („Seid nett“) war das Mantra und „Go hard and go early“ die Taktik, die Ardern fortan in täglichen Pressekonferenzen ausbreitete. In einer verkündete sie charmant, dass auch der Osterhase systemrelevant sei. „Jacindamania“ schwappte auf den Rest der Welt über. US-Medien kürten sie zum „Anti-Trump“.

Neben den medizinisch-administrativen Entscheidungen lag der Fokus auf dem Wir-Gefühl – in dem Wissen, dass der Pandemie-Plan nur funktioniert, wenn das „Team von fünf Millionen“ solidarisch mitzieht. Das tat es: 87 Prozent unterstützten nach vier Wochen rigidem Lockdown eine Verlängerung. Die Maßnahmen der neuseeländischen Regierung hatten die höchste Akzeptanz in allen G7-Staaten. In einer internationalen Umfrage darüber, welches Land in der Krise intern am besten kommuniziert hat, lag Neuseeland mit 20 Prozent an der Spitze. Auch in der Pandemie-Bekämpfung führt der kleine Staat: Das Virus scheint in Neuseeland fast eliminiert zu sein. Anfang Juni gab es nur einen aktiven Fall und zehn Tage lang keine Neuansteckung.

In einem Interview erklärte Ardern ihre rigiden Entscheidungen rückblickend: „Wir haben nicht gezögert, weil das unsere Chance war, es anders zu machen.“ Es anders machen ist typisch: Als erstes Land der Welt gab Neuseeland Frauen das Wahlrecht und wurde zur nuklearfreien Zone. Der gleiche Ansatz zieht sich durch die Politik der 39-jährigen Regierungschefin, die einst DJ war und aus einer Mormonenfamilie stammt. Von der Religion sagte die Polizistentochter sich los, der Blick auf das arme Umfeld ihres Heimatortes blieb ihr. „Bei der Antrittsrede im Parlament nannte sie Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung und Demokratie ihre wichtigsten Werte“, so Michelle Duff, Autorin von Arderns unautorisierter Biografie, zum Freitag.

2017 war Ardern stellvertretende Chefin der sozialdemokratischen Labour-Partei geworden. Bereits fünf Monate später übernahm sie die Parteiführung, sieben Wochen vor den Parlamentswahlen. Als sie als Premierministerin antrat, war sie mit 37 nicht nur die jüngste Frau der Welt in diesem Amt, sondern auch schwanger. Nach Pakistans Benazir Bhutto wurde sie als zweite Regierungschefin Mutter, gemeinsam mit ihrem Baby und Vollzeit-Vater Clarke Gayford reiste sie zur UN-Vollversammlung. Internationale Bekanntheit erlangte Ardern vom 15. März 2019 an. Wenige Stunden nachdem ein Rechtsextremist in zwei Moscheen in Christchurch 51 Menschen erschossen hatte, bezeichnete sie den Anschlag als Terrorakt, legte ein Kopftuch an und umarmte trauernde Angehörige: „Sie sind wir.“ Sechs Tage später verschärfte sie das Waffengesetz. In Dubai wurde Arderns Konterfei samt Hidschab auf einen Wolkenkratzer gebeamt. In Paris setzte sie den „Christchurch Call“ ins Werk, der die Verbreitung terroristischer Inhalte in sozialen Medien stoppen soll.

Nun, vor den Wahlen im September, steht Neuseeland eine massive Rezession bevor, mit einer prognostizierten Arbeitslosenrate von bis zu 26 Prozent. Ardern kürzte ihr eigenes Gehalt um 20 Prozent und schlug die Vier-Tage-Woche vor, um den Tourismus im eigenen Land anzukurbeln. Umfragen sahen Labour Mitte Mai bei 56,6 Prozent – das wäre ein in Neuseeland noch von keiner Partei erreichtes Ergebnis. Doch die Zahlen könnten sich angesichts der ökonomischen Lage ändern, da die Gefahr vor Ort so schnell gebannt wurde. Der infizierte Rest der Welt ist weit weg. Konservative behaupten, der Starkult um die „heilige Jacinda“ verschleiere, wie autoritär ihr Vorgehen in Sachen Corona gewesen sei, und drängen auf Grenzöffnung.

Buchautorin Duff sieht die Ausmaße der internationalen Popularität in einem gewissen Kontrast zur Lage zu Hause: „Es lässt sich nicht leugnen, dass es noch viele Bereiche gibt, wo die Regierung nachholen muss: Wohnraum, Soziales und indigene Rechte.“ Dass Ardern ihr weltweiter Ruhm negativ ausgelegt wird, hält sie jedoch für „albern und sexistisch“.

Anke Richter, Journalistin, lebt in Christchurch

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