Man kann nicht damit aufhören", seufzt sie. Die kleine Frau mit den weißen, gewellten Haaren steht auf dem abgetretenen Perserläufer, der dem Raum nicht unbedingt zur Zierde gereicht. "Seit über 40 Jahren arbeite ich hier - ohne Geld." Eine große Schreibmaschine thront auf dem schmalen Tisch, der wie die anderen Möbel mit Holzimitat furniert ist. In diesem Büro der MEAZ, der Vereinigung ungarischer Widerstandskämpfer und Antifaschisten, zu der auch das 1957 gegründete Ravensbrück-Komitee gehört, arbeitet die 83-jährige Kato Gyulai. Sie hilft ehemaligen Verfolgten, wenn die einen Antrag auf Entschädigung stellen, sie greift ein, wenn Nachweise zu beschaffen sind, sie tut das Woche für Woche, von Montag bis Donnerstag. Manchmal fällt ihr Blick auf die holzvertäfelten Wände, auf fotokopierte Landkarten, die den düsteren Eindruck des Raumes verstärken. Da hängt der Lageplan des Konzentrationslagers Buchenwald mit seinen Außenstellen. Daneben - in Sütterlinschrift - Deutschland 1945, die Angabe über einer Tafel mit Punkten und Dreiecken, der Topographie der Vernichtungslager, in denen die Nazis Millionen Menschen aus ganz Europa ermordeten.
Kato Gyulais Augen sind wach, sie springt auf, sobald das Telefon klingelt, lacht, beantwortet Fragen, wenn jemand durch den Türspalt blickt und etwas wissen möchte, legt beim Erklären die Hand auf den Arm einer Kollegin. Grelles Gelb und frisches Rosa blinken auf ihrem Schreibtisch: Plastikblumen in einer Porzellanvase. Es scheint, als sei Kato Gyulai hier zuhause.
"Eigentlich kann man es nicht glauben, weil es so unvorstellbar, so schlimm war." Ja, etwas Glück und ein starke Wille - das habe sie überleben lassen. Sie legt ihre faltigen Hände auf den braunen Rock und beginnt zu erzählen.
Die Tochter jüdischer Eltern arbeitet bis zum Einmarsch deutscher Truppen am 19. März 1944 in einem Budapester Zeitungsverlag. Wenige Tage danach wird sie entlassen. Um Ungarn, den langjährigen Hitler-Vasallen, an einem eigenen Frieden mit den Alliierten zu hindern, rückte die Wehrmacht an, im Tross acht Sondereinsatzkommandos - eines davon leitet Adolf Eichmann. Im Oktober ´44 nageln deutsche Soldaten und ungarische Pfeilkreuzler Plakate an Türen und Hauswände: Jüdische Frauen zwischen 16 und 40 Jahren werden aufgefordert, sich in den großen Budapester Sportstadien zu sammeln. Die Straßenbahnen auf der Rakoczi ut., eine der Hauptstraßen die am Ghetto entlang führt, sind überfüllt. Frauen drängeln sich so, als wollten sie an einem heißen Sonntag zum Strandbad an der Donau fahren und nicht Elend und Tod entgegen. Auch Kato Gyulai und deren Schwester Evi brechen zur Sammelstelle auf, um von dort auf einen "Todesmarsch", wie die Deportationen später genannt werden, in Richtung Westen zu gehen. Nach drei Wochen im Treck übernehmen Viehwaggons den Transport nach Dachau und von dort in das Frauenlager Ravensbrück, wo der große Schornstein des Krematoriums qualmt. Die beiden Schwestern wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was das bedeutet, obwohl sie schon viel über das Leid der Juden gehört haben.
Kato unterbricht ihren Bericht: "Das ist das, worüber ich nicht sprechen kann, den Tag der Trennung ..."
Ein Fabrikant trifft in Ravensbrück ein, um Arbeiterinnen auszuwählen. "Meine Schwester war schon immer dünner als ich. Evi wurde erst gar nicht gefragt." Katos Lippen bewegen sich tonlos. "Da musste ich mich von ihr verabschieden." Sie sieht ihre Schwester nie wieder.
In der Deutsche Industrie Werke AG, im Außenlager Spandau, muss Kato fortan jeden Tag zwölf Stunden arbeiten: Bis zu 20 Kilo schwere Bombenhülsen tragen, drehen, feilen, lochen - Eisenspäne unter den Maschinen hervorkehren. Die scharfen Späne zerreißen ihr mit der Zeit die Schuhe, das Eisenpulver ätzt, die Füße beginnen zu eitern. An manchen Tagen fällt der Strom aus, ein anderes Mal fehlt Material, Luftangriffe häufen sich. In einem Zeitungsfetzen, in dem ein deutscher Arbeiter sein Butterbrot eingewickelt hat, liest Kato, dass Györ, eine Stadt in Westungarn, bereits von den Alliierten besetzt wurde. "Wir sahen, dass alles zu Grunde ging, aber wir wussten nicht, ob wir das Ende noch erleben würden."
Kato Gyulai erlebt das Ende. Aber bis sie nach ihrer Befreiung aus dem KZ Sachsenhausen, in das sie noch kurz vor Kriegsende gebracht wird, nach Ungarn fahren kann, muss sie erst wieder zu Kräften kommen. Selbst als es heißt, die Deutschen kehrten zurück, alle sollten fliehen, bleibt sie. "Ich wusste nur zu gut, dass ich nicht mehr würde laufen können." Auf 34 Kilo ist sie abgemagert, geplagt von Tuberkulose und Durchfall. Erst im Oktober 1945 gelingt es ihr, sich nach Ungarn durchzuschlagen.
"Ich war beinahe sicher, dass meine Schwester nicht zurückkehren würde und dachte, wenn ich niemanden finde, dann gehe ich nach Israel." Sie findet ihre Mutter und bleibt in Budapest.
Entschädigungszahlungen heute? "Es geht sehr langsam", sagt Kato Gyulai so abgeklärt, als handele es sich dabei um ein Naturgesetz. Fast regungslos sitzt sie auf dem Stuhl in ihrem Büro. Es sei nicht leicht, den Überblick über die verschlungenen Wege zu behalten, um etwas Geld für das erlebte Leid zu bekommen - das gelte für deutsche wie ungarische oder österreichische Stellen.
Aus dem hässlichen Mosaik verschiedener Gesetze und Fonds muss das passende Steinchen für einen Antragsteller erst gefunden werden: Mal ist eine Frist längst abgelaufen wie beim Bundesentschädigungsgesetz, mal ist der Kreis der Berechtigten auf bestimmte Länder eingegrenzt. Schließlich müssen die Formalitäten überprüft werden: Sind alle Belege vorhanden? Ist der Antrag vollständig ausgefüllt? Fehlt eine Unterschrift? Falls nötig, versucht Kato auch selbst, die geforderten Nachweise zu verifizieren, etwa indem sie in den unendlichen Namensketten der Lagerlisten nach einer Antragstellerin forscht.
Sie hat oft Doppelanträge herauszufiltern, denn manchmal haben die Betroffenen ein zweites Gesuch gestellt, weil sie lange keine Antwort oder keine Eingangsbestätigung erhalten haben. Gleichzeitig müssen alle Anträge mit dem österreichischen Versöhnungsfonds abgeglichen werden. Viele waren einige Zeit in Österreich, danach oder zuvor aber auch in Deutschland. Es muss geprüft werden, wo sie länger waren. Ein Entschädigungsverfahren kann so zu einem zermürbenden, demütigenden Unterfangen werden, dessen Ende viele Holocaust-Überlebende nicht mehr erleben.
Im Dezember 2001 ist die Frist für Anträge an die deutsche Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft abgelaufen. 17.000 Anträge sind bis dahin in Ungarn eingegangen - erst 4.000 davon wurden inzwischen bewilligt. Deportierte, die direkt in Vernichtungslagern Sklavenarbeit verrichten mussten, erhalten einmalig bis zu 7.600 Euro - ehemalige Zwangsarbeiter bis zu 2.500.
An die besagte Stiftung können sich nur einstige Zwangsarbeiter wenden. Der 1998 gegründete Central and Eastern European Fund (CEEF) zahlt dagegen auch an Verfolgte, die gezwungen waren, sich zu verstecken oder ins Ghetto zu gehen. Aber die Überlebenden in Ungarn haben ein besonderes "Problem": Die deutsche Besetzung dauerte von März 1944 bis Januar 1945, also neun Monate - zu kurz, um nach den Richtlinien der deutschen Regierung als "entschädigungsberechtigt" zu gelten. Die Kriterien, um Geld aus dem CEEF zu erhalten, sehen vor, dass die Opfer mindestens 18 Monate im Ghetto oder unter falscher Identität gelebt haben müssen. Kato Gyulai steht auf und zieht einem Aktenordner aus dem Holzschrank. In einem Antwortschreiben an eine Antragstellerin heißt es: "In ihrem Antrag geben Sie an, dass sie vom März 1944 bis Januar 1945 im Ghetto waren. Leider müssen wir ihnen mitteilen, dass ihr Verfolgungsschicksal den heutigen Berechtigungskriterien des CEE-Fonds nicht entspricht, weil nicht mindestens 18 Monate Leben im Ghetto vorhanden sind ..."
Für György Sessler, den Vorsitzende des Entschädigungskomitees der MAZSIHISZ, des Netzwerkes aller jüdischen Gemeinden im Lande, sind die ungarischen Juden in zweifacher Hinsicht Opfer des Nationalsozialismus: Weil Ungarn unter Diktator Horthy (*) Verbündeter Hitlers war, wurde das Land im Pariser Vertrag von 1947 den Verlierermächten zugeschlagen, die Reparationen zu zahlen hatten (zum Beispiel an Polen und Jugoslawien). Außerdem sollte der ungarische Staat geraubten jüdischen Besitz zurückgeben, doch gab es dahingehend nie Druck oder Sanktionen von Seiten der Alliierten. Der Wert des geraubten Besitzes an Häusern, Geld, Kunstsammlungen und Mobiliar wurde nach Kriegsende auf zwei Milliarden Dollar taxiert - heute liege er beim Zehnfachen, schätzt György Sessler.
Immerhin erhalten seit 1997 rund 20.000 Überlebende 25 Euro pro Monat an staatlicher Beihilfe, auch wurden in Budapest sieben Immobilien an die jüdische Gemeinde zurückgegeben - sieben von 3.000 Häusern, die ihr einmal gehörten. "Um es vorsichtig auszudrücken, das fiel in der Zeit der Verhandlungen um den NATO-Beitritt Ungarns", erinnert sich Sessler. Vermutlich sei dieses Einlenken der Regierung auf einen gewissen Druck aus Brüssel zurückgegangen.
Gold, Wertpapiere und anderes Raubgut blieben 1944/45 nicht nur in Ungarn, sondern wurden vorzugsweise ins Deutsche Reich geschafft. Doch Verhandlungen zwischen Ungarn und Deutschland zur Entschädigung von geraubtem jüdischen Eigentum gibt es derzeit nicht. Die jüdische Diplomatie in Ungarn sei bemüht, Konfrontation zu vermeiden, beschreibt György Sessler, Sohn jüdischer Eltern, die in Auschwitz ermordet wurden, die Situation. Immerhin, wenn es gelänge, auch diejenigen zu entschädigen, die - historisch bedingt - neun Monate im Budapester Ghetto eingepfercht waren und nicht 18, wie es die CEEF-Kriterien vorsehen, dann wäre wenigstens erreicht, dass die ungarischen Juden den Überlebenden anderer europäischer Ländern gleich gestellt wären - von den 65.000 Menschen, die ins Budapester Ghetto gesperrt wurden, lebten heute noch knapp 10.000. Es sei schon peinlich, so Sessler, wie die Menschen sortiert würden, um dann - am Ende - doch nichts zu bekommen. "Gerade in Ungarn ist die Erinnerung sehr wichtig, denn viele sind neidisch und denken immer noch, dass die Juden nur reich werden wollen. Sie sehen nicht, dass das Geld nur eine symbolische Geste ist."
(*) Reichsverweser Ungarns 1920-44
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