Diese Stadt werde ich nie begreifen und lieben können wie Moskau. Das war mein erster Gedanke, als ich zum ersten Mal am Hauptbahnhof Berlin stand und die hektischen Bewegungen der Pendler beobachtete. Das war fast vor fünf Jahren, und ich war damals 20 Jahre alt. Seitdem besuchte ich Berlin mehrere Male, aber immer nur sehr kurz. Seit Juli bin ich wieder da, diesmal für drei Monate.
Meine Freunde aus Berlin versicherten mir, dass ich in dieser Zeit auf jeden Fall „mein Berlin“ und seine Werte für mich entdecken würde. Doch das beruhigte mich nicht. Ich glaubte nicht, dass Berlin eine Stadt ist, die neben den touristischen Routen auch noch verborgene stillen Straßen und Gassen hat, mit farbenreichen und lebendigen Gebäuden, und in der tolerante Menschen leben, die sehr kommunikativ sind.
Kurz vor meiner Abreise nach Moskau kann ich sagen, dass meine Bekannten recht hatten. Ich habe doch „mein Berlin“ entdeckt und vor allem: das Freiheitsgefühl, das die Stadt gibt.
Sportschuhe statt Absätze
Ich glaube, wenn man aus Berlin kommt, spürt man kaum diesen Freiheitsgeist. Aber wenn man aus einer konservativen Stadt wie Moskau kommt, ist es nicht zu übersehen.
Ich gehe in Berlin-Mitte spazieren und sehe mir die Passanten auf den Straßen an: tätowierte Punks, Hipster, Künstler, sich küssende Homosexuelle, stylisch angezogene Senioren, Frauen in modischen Kleidern, aber ohne Absätze, und die meisten in Sportschuhen. Es scheint mir, als sei allen egal, wie die anderen aussehen. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich diesen Straßenstil genieße und ihn auf den Moskauer Straßen sehen möchte.
Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass Senioren in der russischen Metropole rosa, blau, weiß oder beige Kleidungen anziehen und sonnige Tage in Cafés genießen werden. Erstens ist der Ruhestand nicht die beste Zeit im Leben der russischen Menschen, denn die Höhe der Rente lässt zu wünschen übrig und manchmal sind die Senioren gezwungen, in bitterer Armut zu leben. Zweitens sagt man bei uns, der Mensch solle sich altersgemäß kleiden, und helle Farben stünden dem hohen Alter nicht. Drittens sind in Moskau selten Senioren zu treffen, die, wie hier in Berlin, als Touristen spazieren gehen. Tourismus in diesem Alter ist in Russland ein Luxus, den sich nur wenige leisten können.
"Wie eine Deutsche"
Die Kombination eines schicken Kleides mit Sportschuhen geht in Russland auch nicht. Egal, wie es unbequem die Alternative ist. Frauen tragen Highheels. Wer schön sein will, muss leiden, so ist die Meinung des größten Teils der Moskauerinnen. Ich werde nie vergessen, wie ich einmal nach meiner Rückkehr aus Deutschland zur Arbeit in Moskau in einen deutschen Verlag gegangen bin. Ich trug ein Kleid und Sportschuhe und wurde sofort von meinen russischen Kolleginnen angegriffen: „Du siehst blöd ... du siehst wie eine Deutsche aus.“ Hier bedeutete „wie eine Deutsche“, dass ich auf Highheels zum Kleid und Tonnen von Make-up wie für einen Podiumsauftritt verzichtet habe. Das ist russische Wirklichkeit. Zur Arbeit jeden Tag wie zu einer Modenschau zu gehen, unabhängig vom Wetter, gehört zur russischen Normalität – und bequeme, aber nicht schöne Schuhe zu tragen, zum schlechten Geschmack.
Mir gefällt es, dass man in Berlin nicht so großen Wert auf das Aussehen legt und man an einem Menschen die inneren Werte schätzt. Hier ist allen egal, was man über sie sagt, denn niemand macht sich Gedanken darüber. In Moskau spielt die öffentliche Meinung eine große Rolle. Du wirst ständig von der Gesellschaft beurteilt.
Natürlich entscheidet jeder für sich selbst, ob er so oder so aussehen will und sich an den Vorstellungen der Gesellschaft orientiert, aber die Stadt beeinflusst das stark. Berlin lässt jede_n sein wie er oder sie ist. Ich habe hier ziemlich schnell meine Kleider in den Schrank gesteckt, Lieblingsjeans und kariertes Hemd angezogen, bin von Highheels zu Sportschuhen zurück gewechselt. Damals habe ich mich zum ersten Mal beim Gedanken ertappt, dass ich mich eigentlich in Berlin viel wohler fühle als in Moskau.
Studieren und nachdenken
Das Recht zu wählen gilt nicht nur für Kleidung. Mit 26 Jahren sein Master-Studium zu machen ist hier keine Ausnahme, eher die Regel. Ich stoße auf irritierte Blicke, wenn ich meinen Bekannten aus Deutschland erzähle, dass man in Russland schon mit 17 Jahren die Schule absolviert, mit 22 die Uni. Mit 26 Jahren ist es Zeit, eine eigene Wohnung, Erfolg im Beruf und eine eigene Familie zu haben.
Nach den russischen und insbesondere den Moskauer Maßstäben bin ich eine Außenseiterin. Ich bin Mitte 20, reise viel, schaue mir die Welt an, lerne Leute aus anderen Kulturen kennen, habe zwar einen festen Job, schaffe aber keine materiellen Werte. Wenn ich mit meinen Freunden aus Moskau darüber rede, dass ich mir gerade überlege, weiter zu studieren, scheint es mir, als hätte ich keine Freunde mehr. Freunde sind doch die Menschen, die selbst deine gewagtesten Handlungen verstehen und dich unterstützen, und dir keine Vorwürfe machen, wenn du gegen die Gesellschaft rebellierst. Für Berliner Verhältnisse sieht meine Lebensweise ganz normal aus und ich höre von niemandem die in Russland beliebte Frage, ob es nicht Zeit ist, sich Gedanken über eigene Kinder zu machen.
Nein, es ist auch nicht Zeit, den festen Wohnort für mein ganzes Leben zu bestimmen, wie es in Moskau üblich ist. Berlin ist das beste Beispiel dafür. Man kommt, um den Freiheitsgeist zu spüren, mit sich selbst ins Reine zu kommen und sich Gedanken über die weiteren Pläne zu machen. Aber das bedeutet nicht, dass Berlin für mich zum festen Wohnort wird. Es gibt das Recht zu wählen.
Besonders spürt man dieses Recht, wenn man am Hauptbahnhof Berlin steht und alle Wege offen sind. Nach drei Monaten meines Lebens in Berlin versichern Freunde mir, dass es sie nicht wundert, wenn ich in einigen Monaten irgendwo in Costa Rica oder Indien bin. Der Grund dafür sind dann sicher meine Entdeckungen in Berlin.
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