Mitternacht war schon lang vorbei. Maryam Al-Khawaja saß in einem Zelt auf dem Pearl Square, dem zentralen Platz der bahrainischen Hauptstadt Manama. Die meisten Demonstranten schliefen. Al-Khawaja blödelte mit einem Freund herum: Die Regierungstruppen würden sicher nur mit ihrem Angriff warten, bis auch sie sich endlich hinlegten. In diesem Moment klingelte ihr Handy, ihre Schwester war dran: „Du musst sofort weg. Sie kommen.“
Es war der Auftakt zu dem, was als „Blutiger Donnerstag“ in die Geschichte Bahrains eingehen sollte. Al-Khawajas Stimme klingt ruhig, fast schon distanziert, wenn sie heute, zwei Jahre später, in der Lobby eines Kreuzberger Hotels vom Grauen des 17. Februar 2011 erzählt. „Meine Schwester nannte die genaue Anzahl der Waffen. Ich erzählte es meinem Freund und der fing an, zu lachen“, erinnert sie sich. „Wir wollten es einfach nicht ernst nehmen.“ Als sie das Telefonat beendete, jagten die ersten Schüsse über ihre Köpfe.
Al-Khawaja zählt zu den prominentesten Stimmen der bahrainischen Opposition im Westen und ist für viele in der arabischen Welt eine Heldin. Die 25-Jährige ist stellvertretende Präsidentin des Bahrain Center for Human Rights (BCHR) und des Golf Center for Human Rights. Gemeinsam mit ihrem Vater und ihrer älteren Schwester ist sie wegen ihres Einsatzes gerade für den Friedensnobelpreis nominiert worden. In Berlin ist sie kurz für eine Pressekonferenz. Das BCHR hat gemeinsam mit vier anderen Organisationen bei der OECD gegen zwei Unternehmen aus München eine Beschwerde wegen der Verletzung der Menschenrechte eingelegt. Die Aktivisten werfen den Firmen vor, Überwachungssoftware nach Bahrain geliefert zu haben (siehe Kasten). Zum Interview in Kreuzberg trägt Al-Khawaja ein elegant fallendes Kopftuch, schwarzen Lidstrich, zehn Zentimeter-Pumps.
Keine Pausen, kaum Schlaf, viel Koffein
Für Oppositionelle wie sie gehe es nicht um Datenschutz aus Prinzip, erklärt sie. Es gehe um Leben und Tod. „Diese Software wird im Bahrain benutzt, um Regimekritiker zu überwachen und festzunehmen“, sagt sie. Und in bahrainischen Gefängnissen wird gefoltert, manchmal bis zum Tod. Deshalb will das BCHR die Unternehmen zur Verantwortung ziehen und fordert strengere Exportkontrollen.
Außer Al-Khawaja sind inzwischen alle namentlich bekannten Mitglieder der NGO in Haft. Sie koordiniert die Arbeit weitgehend allein. Die Organisation hat ein Büro in Kopenhagen und eine Handvoll Praktikanten, die dort arbeiten. Finanziert wird das über Spenden. In Bahrain dokumentieren Freiwillige Menschenrechtsverletzungen und schicken ihr Material nach Dänemark.
Manchmal melden sich Familienmitglieder Inhaftierter aber auch direkt in Kopenhagen. „Sie bitten uns etwa, ihr Kind zu retten“, sagt Al-Khawaja. „Doch das können wir meist nicht.“ Wie lebt sie damit? Abschalten könne sie praktisch nicht, gibt sie zu. Pausen zu machen, würde wenig bringen. Schlafen könne sie auch kaum. Sie trinke viel Kaffee, Cola, Red Bull. Und immer wenn sie glaube, es nicht mehr ertragen zu können, vergrabe sie sich noch tiefer in die Arbeit, erzählt sie. Nur manchmal schreibe sie auch Gedichte zum Ausgleich.
Sie wäre gern Schriftstellerin geworden. Oder Professorin. Doch diese Gedanken kommen ihr seit dem 17. Februar 2011 fremd vor. Sie plane keine fünf Monate mehr im Voraus, geschweige denn fünf Jahre. „Von dem, was ich weiß, kann ich morgen tot sein.“ Den Wunsch nach einer eigenen Familie leistet sie sich nicht. „Momentan sehe ich nur, dass mich das bremsen würde. Das kann ich nicht zulassen.“
Ihr Vater und ihre Mutter sind überzeugte Aktivisten. Gegen Missstände aufzubegehren, wurde ihr und ihren drei Schwestern so von klein auf vorgelebt. „Unsere Eltern bläuten uns ein, dass, wenn wir ein Unrecht sähen und nichts dagegen täten, etwas mit uns als Menschen nicht in Ordnung wäre.“ Sie hat das nicht als Bürde empfunden, sie kannte es ja nicht anders.
Al-Khawaja sagt, sie träume von einer Welt ohne Menschenrechtsverletzungen. Als Bahrainerin sei sie jedoch kaum mehr Wert als ein Fass saudisches Öl, sagt sie bitter. Mit Sorge betrachtet sie nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch im Westen das Streben nach Wirtschaftsmacht und absoluter Sicherheit. „In Nordafrika und im Mittleren Osten kämpfen wir für mehr Freiheit. In der westlichen Welt geben wir sie immer mehr auf.“
Geboren wurde sie im Exil in Syrien. Ihre Eltern waren aus Bahrain geflohen, wo sie als Regimekritiker harte Strafen zu befürchten hatten. Als Al-Khawaja anderthalb Jahre alt war, zog die Familie nach Dänemark. Dort hatten sie politisches Asyl bekommen. Doch die gewonnene Freiheit schmeckte bitter, der Alltag war hart für die muslimische Familie. Sie lebten in einem bürgerlichen Vorort von Kopenhagen. Fast täglich sagten Menschen auf der Straße zu dem jungen Mädchen, dass sie das Land verlassen solle, Busfahrer schlossen ihre Türen, beim Einkaufen verfolgte sie das Supermarkt-Personal, als ob sie gleich etwas stehlen würde. „Wir wurden von Anfang an wie Kriminelle behandelt. Fast täglich wurde uns signalisiert: Ihr gehört hier nicht dazu. Ihr seid fremd.“
Rückkehr mit Enttäuschungen
Bahrain erschien aus der Ferne umso mehr als gelobtes Land. „Wir wuchsen auf mit der Idee, dass es das Paradies sei. Der Ort, wo wir hingehörten.“ Als sie 14 war, erließ das bahrainische Königshaus eine Generalamnestie. Sofort plante die Familie die Rückreise. Doch die Hoffnungen auf eine echte Öffnung zerstoben. „Ich dachte, dass ich nun endlich in dieses Land komme, wo jeder ein Revolutionär ist. Tatsächlich kam ich in ein Land, in dem niemand über Politik reden wollte und schon gar nicht über Menschenrechte“, erzählt sie.
Nach kurzer Zeit wollte sie wieder zurück nach Dänemark. Fremdenfeindlichkeit hin oder her, mit den autoritären Strukturen in Bahrain hatte sie noch größere Schwierigkeiten. Und sie musste mitansehen, wie ihr Vater, der weiter die Machthaber kritisierte, zusammengeschlagen wurde. Die Auseinandersetzungen in Bahrain werden oft als religiöser Konflikt zwischen der regierenden Minderheit der Sunniten und den Schiiten im Volk beschrieben. Die Protestler seien Sympathisanten des Irans, heißt es dann. Al-Khawaja winkt ab. Dieses Argument solle die Freiheitsbewegung diffamieren, sagt sie. „Es geht um Menschenrechte. Wir wollen einfach in Würde leben und ohne Angst unsere Meinung sagen dürfen.“
Bahrain zu lieben, habe sie eigentlich erst mit der Revolution gelernt. Im Sommer 2010 kehrte sie aus den USA zurück nach Manama. Sie hatte mit einem Stipendium ein Jahr Arabisch an amerikanischen Universitäten unterrichtet, nachdem sie in Bahrain einen Abschluss in Englisch und Literatur gemacht hatte. Doch als sie aus den USA zurückkam, fand sie nirgends einen Job. „Ich bekam ein einziges Vorstellungsgespräch. Der Personaler guckte in meinen Lebenslauf und sagte: ‚Ist Ihr Vater nicht ständig im Gefängnis? Ich hoffe, Sie erwarten nicht viele Rückrufe.‘“ So machte sie das Regime endgültig zur Dissidentin.
Im August 2010 gab es Proteste und Verletzte, Menschen wurden verhaftet und misshandelt. Die NGO, die ihr Vater mitgegründet hatte, brauchte jemanden, der gut Englisch sprach und die Ereignisse für ausländische Organisationen und die UN dokumentierte. „Ich hatte nichts anderes zu tun“, erzählt sie. „Also machte ich das.“
Natürlich ist die Arbeit für das Bahrain Center for Human Rights mehr als nur ein Job. Bereits im September 2010 erhielt Al-Khawajas Vater Informationen, dass bei Verhören immer häufiger nach seiner Tochter gefragt wurde, was sie für das BCHR genau tat, wo sie sich aufhielt. „Das tun sie, bevor sie die Person selbst verhaften. Sie sammeln Informationen“, erklärt sie. Es war klar, dass die Verhaftung nur eine Frage der Zeit wäre. Doch sie hatte gerade einen dänischen Ausweis beantragt und erhalten. Sofort packte sie ihre Sachen, zahlte am Flughafen bar ein Ticket und verlies das Land. „Es war schrecklich“, sagt sie. „Ich durfte niemandem sagen, was los war und konnte mich nicht verabschieden.“
Sie flog nach London, wo sie bis zum Februar 2011 blieb. Als sie hörte, dass Oppositionelle Aufstände in Bahrain planten, stieg sie ins Flugzeug zurück. „Um nichts in der Welt wollte ich das verpassen.“ Inzwischen war sie durch ihre Arbeit bekannt – und sie hoffte, dass ihr das einen gewissen Schutz geben würde. Das Regime würde alles vermeiden, um die Proteste anzufachen. Allerdings blieb sie kaum einen Monat. „Ich wollte nicht weg. Aber mein Vater überzeugte mich, dass die Arbeit auf der internationalen Bühne wichtig sei.“ Seitdem ist sie auf einer Mission. Sie spricht vor dem US-Kongress oder bei der Oslo Freedom Conference, bei den Vereinten Nationen in Genf oder in Tunesien und Marokko.
Während der Proteste im Februar und März 2011 hätten sie und ihre Familie sich morgens immer richtig voneinander verabschiedet, erzählt sie. Alle wussten, dass es möglich war, dass sie nicht zurückkommen würden. So war es auch, als sie diesmal im Januar kurz einreiste, um ihre Familie zu sehen. „Sobald du im Auto bist, verschließt du die Türen. Um drei Minuten zu haben, bevor sie dich kriegen.“ Drei Minuten, um schnell noch eine Nachricht zu verschicken und die Sim-Karte aus dem Handy zu zerbrechen, damit die Sicherheitsbehörden nicht die Kontakte auslesen können. Der schlimmste Zeitpunkt des Tages seien die paar Minuten, in denen man abends vom Auto zur Wohnungstür laufe. Da könnte sie nichts tun, wenn sie verhaftet würde. Deshalb rufe sie vorher immer jemanden an. „Falls etwas passiert, weiß es dann wenigstens jemand.“
Irrationales Schuldgefühl
Der Einsatz gegen die Mächtigen fordert seinen Tribut. In den Tagen nach dem 17. Februar 2011 lief sie durch Manama, sie sah Tote, denen der halbe Kopf fehlte. Während andere um sie herum weinend zusammenbrachen, machte sie Fotos, zückte ihren Block, um alles festzuhalten. „Meine Freunde dachten, dass etwas mit mir nicht in Ordnung sei“, sagt sie mit einem gequälten Lächeln. „Ich habe ihnen erklärt, dass es mir wichtiger ist, die Fälle zu dokumentieren, als in Tränen auszubrechen.“ Erst auf Nachfrage gibt sie zu, dass all das nicht spurlos an ihr vorübergehe. Sie lehnt sich in dem Ledersessel der Hotellobby vor, umfasst ihr Cola-Glas fest mit beiden Händen. „Es verfolgt dich“, sagt sie. „In deinen Träumen, immer wenn du die Augen schließt. Dann siehst du die Opfer. Sie sehen dich an, als ob du verantwortlich bist für ihr Schicksal. Und nichts getan hast.“ Sie hält kurz inne. „Oder zumindest nicht genug.“
So ist es das Gefühl von Schuld – wie irrational auch immer – und die Vorstellung einer immensen Verpflichtung, die sie antreiben. Für die Opfer, die sie nicht persönlich kannte. Und für deren Familien.
Al-Khawajas Vater wurde im Juni 2011 zu lebenslanger Haft verurteilt. Sicherheitskräfte warfen ihren Onkel vom Dach eines Hauses, vor den Augen seiner Familie. Ihre Schwester wurde verprügelt und angeschossen. Sie versuche trotzdem keinen Hass zu empfinden, sagt sie. Ihr Vater habe sie dies gelehrt. „Hasse Handlungen, aber nicht Menschen“, sei sein Leitsatz. Immer wenn sie schwach werde, erinnere sie sich daran, was ein Mitgefangener ihr von ihrem Vater erzählt habe. Nach einer der Foltersitzungen habe er zu seinem Peiniger gesagt: „Ich vergebe dir.“
Die Sehnsucht nach einem freieren Leben sei stärker als die Sorge um die eigene Sicherheit, fügt sie noch hinzu. „Du bist so verliebt in die Idee, frei zu sein, so verliebt in die Vorstellung, dass du deine Würde zurückbekommen könntest, dass du dich dem Risiko aussetzt. Nicht, weil du keine Angst hast. Sondern trotz der Angst.“
Der Kampf gegen Überwachungssoftware
Maryam Al-Khawaja ist eine der prominentesten bahrainischen Menschenrechtsaktivisten. Sie wurde am 26. Juni 1987 in Syrien geboren und lebt heute im Exil in Kopenhagen. Al-Khawaja ist stellvertretende Präsidentin des Bahrain Center for Human Rights (BCHR) und des Golf Center for Human Rights. Zusammen mit ihrem Vater und ihrer Schwester ist sie gerade für den Friedensnobelpreis nominiert worden. Ihr Vater wurde 2011 in Bahrein zu lebenslanger Haft verurteilt und sitzt seitdem im Gefängnis.
Anfang Februar hat das BCHR mit vier anderen Menschenrechtsorganisationen eine Beschwerde bei der OECD gegen zwei Unternehmen eingelegt: Die Aktivisten werfen der Münchener Trovicor GmbH und der britisch-deutschen Gamma Group vor, Überwachungssoftware nach Bahrain verkauft zu haben. Damit ermöglichten sie Verletzungen der Menschenrechte. Daten aus abgefangenen Telefon- und Internetverbindungen seien dazu verwendet worden, Dissidenten festzunehmen und dann unter Folter Geständnisse zu erpressen.
Die Beschwerdeführer fordern von Deutschland und Großbritannien Exportrichtlinien, um Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang
mit der Produktion und dem Handel von Überwachungstechnologie zu verhindern. Die beiden Länder sind völkerrechtlich dazu verpflichtet, Menschenrechtsverstöße von Unternehmen zu unterbinden, die auf ihrem Territorium ansässig sind.
AUSGABE
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 9/13 vom 28.02.20013
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