Alle einsteigen: Literarische Bahnfahrt (v.l.n.r.: Annett Gröschner, Nadja Gröschner)
Foto: Melanie Huber
Fremde Menschen treffen aufeinander, Schüler sitzen neben Anzugträgern, Rentner drängeln neben Obdachlosen, Fahrräder stehen neben Kinderwagen. Und während draußen Straßen und Häuserreihen vorbeiziehen, versuchen die meisten sich von ihrer Umgebung mit Smartphones oder MP3-Playern abzuschirmen. Aber es gibt auch Leute wie Annett Gröschner. Die Autorin und Journalistin, die unter anderem für die taz und den Freitag schreibt, beschäftigt sich in ihren literarischen Texten, wie zuletzt in ihrem Roman Walpurgistag, mit dem, was um sie herum in der Stadt geschieht. Mit Gegenwart und Vergangenheit, Ost und West, vor allem in Berlin.
An diesem Samstagvormittag hat Gröschner zu einer Lesung eingeladen. Ihre Buchpremiere soll gleichzeitig e
Ihre Buchpremiere soll gleichzeitig eine Stadtrundfahrt sein, in einer antiken Straßenbahn. Mit der Linie 4 um die Welt heißt Gröschners neues Buch. In den vergangenen Jahren ist sie überall auf der Welt, in Metropolen und der Provinz, mit Straßenbahnen und Bussen der Linie 4 gefahren. Ihre Art der Annäherung an fremde Orte.Eine Reise machen Berlin-Prenzlauer Berg ist Gröschners Zuhause. Für den Sonderzug hat sie die Strecke M 10 ausgewählt. Auf der heutigen Partystrecke vom Nordbahnhof bis zur Warschauer Straße fuhr einst die Linie 4. Treffpunkt ist die Wendeschleife am Mauerpark, sie liegt hinter Gebüsch versteckt. Der Himmel ist zugezogen, es nieselt. Gröschner steht mit einem Regenschirm in der Hand an der Bernauerstraße und empfängt die Ankömmlinge. Eine kleine Gruppe versammelt sich zwischen einem Häuschen mit aufgesprühtem Mauerwerk und den Schienen. Es sind etwa 40 Leute, darunter Interessierte, Freunde, Familie und Lektorin. Wie viele Frauen hier rote Haare tragen.Auf den Schienen ein DDR-Straßenbahn-Oldtimer, cremeweiß, elegant. Davor ist ein Büchertisch aufgestellt, auf dem Getränke stehen, man kann sich Brause, Apfelsaft oder Sekt nehmen. Die Autorin und ihre Schwester Nadja Gröschner laufen mit Plastiktaschen mit Obstdruck herum und verteilen Leberwurst- und Frischkäsebrötchen. Dann begrüßt die Autorin die Gäste, während alle darauf warten, dass sich die Tram in den normalen Schienenverkehr eintakten kann. „Im vorderen Wagen lese ich aus meinem Buch, im hinteren erzählt meine Schwester Geschichtliches zu Straßenbahn und Strecke. An der Warschauerstraße wechseln wir“, sagt Gröschner.Alle einsteigen, die Gäste teilen sich auf beide Wagen auf. Innen sind die Wände mit Holz vertäfelt. Das Publikum nimmt auf den flaschengrünen Ledersitzen Platz. Gröschner steht vorn beim Fahrer und spricht über ein Mikrofon. In den Kurven werde es laut, sagt sie, da wird sie kurz unterbrechen. Bevor sie anfängt zu lesen, macht sie auf die Zahlboxen in der Bahn, ein Relikt der DDR, aufmerksam. „Früher haben die Frauen, die das Geld zählen mussten, darin immer lauter Knöpfe statt Pfennigen gefunden.“KindheitserinnerungenDie Bahn ruckelt ein Stück, die Autorin liest aus dem Vorwort, das ihre Liebe zu Straßenbahnen erklärt, insbesondere zur Linie 4 in Magdeburg, der Tram ihrer Kindheit. „Kennen sie Madeleines? Die Erinnerung, die kommt, wenn man einen bestimmten Geschmack auf der Zunge hat?“ Während Gröschner erzählt, die Madeleines würden sich auf Marcel Prousts Die Suche nach der verlorenen Zeit beziehen, fährt die M 10 gerade an einer mit Graffitis besprühten Kiezbäckerei vorüber. Und was für Proust das Gebäck war, ist für Gröschner das Quietschen der historischen Straßenbahnwagen in den Kurven – ein Träger von Erinnerungen.Draußen kontrollieren zwei Politessen die parkenden Autos, vor einem der vielen Second-Hand-Läden steht ein grüner Käfer. Immer wieder wischen die Besucher Gucklöcher in die beschlagene Scheibe, verfolgen eine Weile das Treiben der Stadt, um dann wieder im gehörten Text zu versinken. Innen und Außen vermischt sich. Die eigene Kindheitserinnerung mit der Erzählung von Gröschners Straßenbahnvergangenheit.So wie die Autorin vorn in der Bahn steht, mit dem Mikro in der Hand, wirkt sie wie eine Reiseleiterin, die durch ihre Beobachtungen führt. Damit ist man ihr näher als den sonst gern etwas abgehoben wirkenden Figuren aus dem Kulturbetrieb.Die Heizungskästen unter den Sitzen bollern. Die Autorin berichtet, dass ihre Mutter Bahn fahren nicht mochte, sondern lieber mit den Töchtern zu Fuß unterwegs war und ihnen als Wegzehrung immer eine Scheibe Mortadella kaufte. Davon bekommen alle Hunger und packen die von Gröschner handgeschmierten Wurstbrötchen aus.Die Welt spielt hierGröschner trägt ein schwarzes Kleid und eine gelbe Strumpfhose – angelehnt an die historische Uniform der Berliner Schaffnerinnen. Ein Beruf, den Frauen erst seit dem Ersten Weltkrieg wegen Männermangels ausüben durften. Die Tram hält jetzt an der Prenzlauer Allee/Ecke Danziger Straße. Jemand möchte einsteigen, ruckelt an der verriegelten Tür. Der Schaffner streckt den Kopf raus: „Sonderfahrt“, sagt er mürrisch. Der Passant schaut irritiert.Sie habe die Angewohnheit entwickelt, die Schauplätze aus fremden Büchern in ihre eigene Umgebung zu verlegen, sagt Annett Gröschner. Wir tuckern weiter durch Berlin, und sie erzählt von Fahrten durch Kasan, der Hauptstadt von Tatarstan, oder von Temeswar in Rumänien. Gröschner fuhr auch durch Paris, Istanbul, Tel Aviv und Wien. Ihre Stärke liegt in der detaillierten Beobachtung des Alltäglichen. Je länger man mit ihr fährt, desto weniger selektiert man das Wahrgenommene: die zerstörte Bank auf einem Grünstreifen, der mit Geranien überwucherte Balkon, den jungen Mann, der nachhause torkelt. Auf einmal schaut man beim Straßenbahnfahren wieder hin, schenkt nebensächlichen Dingen Beachtung und lässt die Großstadt wieder an sich ran.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.