Schrecklich bunt

9/11 Wie vermittelt man Kindern am besten den 11. September? Eine US-Behörde bot ein Buch mit brennenden Twin Towers zum Ausmalen an, viele Eltern waren entsetzt

Können Malbücher Kinder schonend an Katastrophen wie den 11. September heranführen? Ja, sagt die amerikanische Behörde für Katastrophenhilfe, die Federal Emergency Management Agency (FEMA). Die Bundesbehörde bot auf ihrer Webseite Motive der Terroranschläge als Kindermalbuch zum Download an. Die Kleinen konnten in dem Malbuch A Scary Thing Happened unter anderem die zwei brennenden Türme des World Trade Centers bunt ausmalen.

Allerdings waren nicht alle Amerikaner von der pädagogischen Strategie der Behörde überzeugt: Zunächst tadelten Fernsehsender, dann auch die Printmedien das Malbuch. Eine Kontroverse entbrannte, die sich wie ein Lauffeuer verbreitete. Das FEMA-Malbuch polarisierte. Auf der einen Seite standen jene, die für eine schonungslose Konfrontation der Kinder mit den Themen Tod, Katastrophe und Verwüstung plädierten. Auf der anderen Seite vereinten sich diejenigen, die die kindliche Sorglosigkeit um jeden Preis beschützen wollten. Sie prangerten die Malbücher und die Konfrontation mit Katastrophen wie den 11. September als verantwortungs- und herzlos an.

Die FEMA verteidigte das Malbuch dabei mit einer Begründung, die sich auf gegenwärtige Erkenntnisse der Kinderpsychologie stützt: Auf diesem Forschungsgebiet der Psychologie gelten Malbücher bereits seit den 1970er Jahren als schöpferisches Ventil für Kinderängste und Traumabewältigung. Gleichzeitig dienen sie auch zur Heranführung des Nachwuchses an katastrophale Ereignisse. Zum ersten Mal zum Einsatz kamen Katastrophen-Malbücher nach dem Tornado in Omaha im Mai 1975.

Spielerische Heranführung ist

wissenschaftlicher Konsens

„Kinder sind generell gegenüber Katastrophen widerstandfähig und können Wege finden, effektiv mit ihnen umzugehen“, schreiben die Wissenschaftlerinnen Alice Fothergill und Lori Peek über Studien mit Kindern, die den Hurrikan Katrina überlebt haben. Ganz neu ist die Erkenntnis nicht: Bereits Mitte der 1990er Jahre galt die Einsicht aufgrund zahlreicher vorangegangener Studien als gesichert. Das Gros der Studien sprach sich für die spielerisch-kreative Heranführung an Katastrophen aus, um den emotionalen Stress der Kinder und ihr Risiko auf posttraumatische Belastungsstörungen möglichst zu reduzieren.

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden jedoch von erbosten und besorgten Eltern in der 9/11-Debatte, die im April begann, für nichtig erklärt: „Kinder wollen lustige Motive ausmalen, nicht Ereignisse, die sie traurig machen und schon gar nicht Ereignisse, bei denen so viele Menschen ums Leben gekommen sind“, so oder ähnlich äußerten sich Mütter aus New York, die zahlreich von CNN und Fox News zitiert wurden. Sogar Gewaltandrohungen fanden in den Medien Platz, beispielsweise in der New York Daily News. Sie zitierte einen jungen Vater aus New York, der „den für das Malbuch zuständigen Mitarbeitern der FEMA am liebsten ins Gesicht boxen würde“. Die Zuspitzung in den Medien ließ einen konstruktiven Diskurs zwischen den aufgewühlten Eltern und wissenschaftlichen Fachleuten nicht zu. Rasch gewannen plakative Beschuldigungen die Oberhand. So beispielsweise, dass FEMA es geschafft habe, aus einem Malbuch eine Horrorstrecke zu gestalten.

Sechs Jahre kümmerte sich keiner um das Buch

Ungesagt blieb, dass die Bundesbehörde nicht der Urheber des Malbuches gewesen ist: Ehrenamtliche Mitarbeiter des Freeborn County Crisis Response Teams, allen voran die Illustratorin Marlys Jentoft, haben das Malbuch entworfen und vervielfältigt. „Ich hatte keine Ahnung, dass das Thema des 11. Septembers einen solchen Sturm auslösen könnte“, sagt Jentoft. „Der 11. September ist schließlich ein Teil unseres Alltags.“ Umso verdutzter war die zehnfache Großmutter über den Zeitpunkt: Das Malbuch war schließlich nicht erst im April 2009 auf der FEMA-Webseite erschienen, sondern bereits im Jahr 2003.

Ende April nahm FEMA das Malbuch schließlich doch aus ihrem Online-Repertoire. Kein zufälliger Zeitpunkt, meinen Beobachter: Am 27. April waren die Air Force One und ein Kampfjet über Manhattan hinweg geflogen und hatten für Angst und Schrecken unter New Yorkern gesorgt, die hinter dem Anflug einen weiteren Terroranschlag vermuteten. Es kam zu zahlreichen Evakuationen. In diesem sensiblen Kontext schien es den FEMA-Mitarbeitern offenbar angebracht, das umstrittene Buch lieber aus der Schusslinie zu nehmen. Die Debatte, wie man Kindern solche Ereignisse am besten vermittelt, ist seither abgeflaut.

Heute stehen auf der FEMA-Webseite drei Malbücher zum Download bereit, deren Motive nicht auf konkreten Ereignissen der Vergangenheit beruhen. Vielmehr werden Naturkatastrophen wie Tornados, Überflutungen und Hurrikans ganz allgemein dargestellt. Damit hat sich FEMA den Protesten gebeugt und ist dem Kreuzfeuer der Medien entkommen – womit sie sich selbst vermutlich einen größeren Gefallen getan hat als den Kindern.

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