Das Leben nimmt oft unerwartete Wendungen und manchmal verändern sie einen von Grund auf. Bei Jörg Vieweg war es der Tod seiner Mutter. 14 Jahre ist es her, dass er Abschied von ihr nehmen musste. „Es war ein entsetzliches, traumatisierendes Erlebnis“, sagt er. Im Detail möchte er nicht darüber sprechen. Nur, dass der letzte Anblick seiner toten Mutter ihn verändert habe. Er hatte seither das Gefühl, dass etwas grundsätzlich schieflaufe im Bestattungswesen. Also recherchierte er im Netz und sprach mit seinen Kollegen aus dem Krankenhaus über den Tod und über das Abschiednehmen. Zu jener Zeit arbeitete Jörg Vieweg als Krankenpfleger und Rettungsassistent. Dann erfuhr er von sogenannten Thanatopraktikern, auch Einbalsamierer genannt. Sie präparieren, konservieren, rekonstruieren und richten verstorbene Menschen her. Das ermöglicht den Angehörigen, sich von den Verstorbenen mit einem letzten schönen Anblick zu verabschieden. „Kein Abschied ist letztendlich keine Alternative“, sagt er. So kam es, dass Jörg Vieweg zwar seinen blauen Kittel anbehielt – nur fortan lagen vor ihm die Toten.
Es ist kalt in dem Raum mit den beigen Wänden. Durch das Fenster gleißt das Sonnenlicht auf den rosafarbenen Boden. Der Geruch von Chemikalien erfüllt den Raum, vermengt sich mit Kot und da ist noch etwas Anderes, Stechendes. Jörg Vieweg, 51, steht vor dem Waschbecken aus Stahl. Er trägt schwarze Plastikhandschuhe, einen blauen Kittel, schwarze Schuhe, Jeans, Schutzbrille. Mit zwei ruckartigen Handgriffen öffnet er den Wasserhahn, bis das Wasser in den Plastikeimer fließt. Konzentriert beobachtet er den Wasserfluss, bis dieser den oberen Rand erreicht. Dann dreht er sich langsam um und blickt auf den Edelstahltisch inmitten des Raumes.
Da liegt sie, eine 78-jährige Dame aus Sizilien, nackt, die Haut matt und bronzefarben, die Augen geschlossen, der Mund leicht geöffnet, aus ihrem Bauch blickt ein Metallschlauch hervor. „Sie ist an Nierenversagen gestorben, daher die Bronzefarbe“, sagt Jörg Vieweg. Er ist dabei, die Leiche einzubalsamieren, damit sie in der kommenden Woche nach Italien überführt werden kann. Dazu wird das Blut der Verstorbenen durch einen verwesungshemmenden Wirkstoff ersetzt. „Das ist eine konservierende Behandlung“, sagt Vieweg. Er könne den Tod nicht aufhalten, aber er könne den Verwesungsprozess entschleunigen. „Nur so kann die italienische Familie noch Abschied nehmen“, sagt er und schüttet das Wasser über den Unterleib der Toten. Ein Gemisch aus Kot, Blut, Urin und Wasser fließt über die Tischrinnen in den Abfluss ab. Das passiert so lange, bis der Bauchraum des Leichnams gereinigt ist.
Formalin für die Bakterien
„Der Bauchraum und die Brusthöhle sind voller Bakterien“, sagt Vieweg. „Nach dem Tod zersetzen sie den Körper.“ Dabei entstünden auch Gase, die den Bauch zum Platzen bringen könnten. „Das ist dann kein schöner Anblick“, sagt er. Um das zu verhindern, müsse er den Bauch mit einer speziellen Flüssigkeit ausspülen: Formalin, womit zuvor auch das Blut der Verstorbenen ersetzt wurde. „Ganz egal, welcher Erreger sich in ihr befindet, damit wird er ganz sicher getötet“, sagt Vieweg. Dann geht er langsam zu der weißen Theke, auf der verschieden große Behälter, bunte Fläschchen, Metallzangen und Pinzetten liegen, daneben ein schwarzes, kastenförmiges Gerät, die Einbalsamierungspumpe. Konzentriert blickt Jörg Vieweg auf den Regler, kontrolliert, wie viel Flüssigkeit bereits abgelaufen ist. Hinter ihm liegt die verstorbene Dame, der fahle Teint schimmert im grellen Licht. Durch den Metallschlauch in ihrem Bauch ist sie mit der schwarzen Pumpe verbunden. Die acht Liter Flüssigkeit, die nun in ihren Körper fließen, werden das letzte Stück Leben in ihr zerstören.
„Das ist nichts, was man seinen Angehörigen wünscht“, sagt Jörg Vieweg und wendet sich wieder zu dem Waschbecken aus Stahl. Gleiches Prozedere. Das Wasser plätschert, das Blut tropft, ein Surren ist zu vernehmen, wie ein dumpfer Tinnitus im Ohr. Dennoch, im Raum ist es still. „Das ist nicht immer so“, sagt Jörg Vieweg. Normalerweise arbeite er mit einem Kollegen zusammen. „Das geht einfach schneller“, sagt er. „Und man kann sich unterhalten.“ Dann spiele im Hintergrund auch mal Musik. Meistens höre er Jazz, am liebsten die norwegische Jazzsängerin Silje Nergaard. Das mache die Arbeit etwas angenehmer. Belasten würde sie ihn aber nicht. „Ich habe 20 Jahre Rettungsdienst gemacht. Da habe ich schon alles gesehen“, sagt er. Beinahe sein ganzes Leben lang habe er mit Menschen in krisenhaften Situationen zu tun gehabt. Der Tod war dabei ein ständiger Begleiter.
Konservierung für die „Körperwelten“
So selten hierzulande und heute die Einbalsamierung Verstorbener im Privaten ist, so großes Aufsehen erregt eine andere Form der Konservierung toter Körper schon seit Jahren in der Öffentlichkeit: das vom Arzt, Anatom und Unternehmer Gunther von Hagens patentierte Verfahren der Plastination, welches dieser für seine „Körperwelten“-Ausstellungen nutzt, wie sie derzeit etwa in Stuttgart und im polnischen Lodz gastieren.
Auch zu Beginn einer Plastination findet die chemische Lösung Formalin Verwendung, wird in die Arterien gepumpt, um Bakterien abzutöten und den Zerfallprozess aufzuhalten. Ansonsten ist die Plastination aber eine völlig andere Technik, die auf eine dauerhafte Konservierung von Gewebe, Organen und Körpern toter Menschen und Tiere abzielt. Hierfür werden die Präparate unter anderem zwei Wochen bis drei Monate in ein eiskaltes Bad mit einem Lösungsmittel wie Aceton eingelegt, mit Kunststoff wie etwa Silikonkautschuk durchtränkt und mit Gas gehärtet. Am Ende stehen die berühmt-berüchtigten Exponate, wie sie in den Körperwelten zu sehen sind. „Man kann von Gunther von Hagens halten, was man will, ein genialer Techniker ist er in jedem Fall“, sagt Jörg Vieweg.
Vor allem die Kirchen kritisierten von Hagens dafür, dass er den Menschen auf materielle Bestandteile reduziere und einer würdigen Gedenkkultur beraube. Das Bezirksamt Berlin-Mitte versuchte zuletzt, eine dortige Dauerausstellung zu verbieten, weil nicht überprüfbar sei, ob für die ausgestellten Körper zu Lebzeiten getätigte Einwilligungen vorlägen. Die Macher entgingen dem mit einem Austausch der Exponate. Sebastian Puschner
Wie wichtig es ist, sich von seinen Hinterbliebenen zu verabschieden, wurde Jörg Vieweg aber vor allem in den Jahren als Bestatter bewusst. „Je plötzlicher jemand stirbt, desto wichtiger ist die Klärung mit dem Verstorbenen“, sagt er. Es habe Fälle gegeben, in denen Menschen vor dem Tod im Streit auseinandergegangen sind. „Dann ist es besonders wichtig, die verstorbene Person noch einmal zu sehen und die Dinge am Sarg zu klären“, sagt er.
Deshalb sei neben der Einbalsamierung auch die Rekonstruktion ein Schwerpunkt der Arbeit: Verstorbene wiederherzustellen, die durch einen Unfall oder aber durch eine langandauernde medizinische Behandlung entstellt wurden. Dazu zählten etwa 80 Prozent der Verstorbenen, die in seinem Bestattungsinstitut in Schleswig-Holstein thanatopraktisch behandelt würden. „Die restlichen 20 Prozent betreffen die Menschen, von denen man in der Zeitung liest“, sagt er.
So war Vieweg etwa gemeinsam mit zwei Kollegen an der Rekonstruktion des deutschen Fußballtorwarts Robert Enke beteiligt. Enke hatte sich im Jahr 2009 durch einen Schienensuizid das Leben genommen. „Einen dermaßen veränderten Körper wieder so herzurichten, dass eine offene Aufbahrung möglich ist, kann bis zu zwei Tage dauern“, sagt er. Das sei auch oft bei obduzierten Leichen der Fall. Denn Rechtsmediziner müssten bei der inneren Leichenschau alle Organe untersuchen. Beim anschließenden Verschließen des Körpers käme es da nicht auf Schönheit an. Dafür sind die Thanatopraktiker zuständig.
Thanatopraxie setzt sich aus den griechischen Worten für Tod und Handwerk zusammen. In der griechischen Mythologie ist Thanatos der Gott des Todes, des sanften Todes. Er stellt den Übergang in das Totenreich dar.
Thanatopraktiker erweisen den Toten die letzte Ehre, geben ihnen ein Stück Würde zurück, geleiten sie sorgsam in das Jenseits. Denn der Anblick des Todes ist selten schön. Thanatopraktiker können das ändern. In Deutschland gibt es rund 100 ausgebildete Einbalsamierer. Die meisten von ihnen arbeiten hauptberuflich als Bestatter.
Make-up für die tote Haut
„Wir versuchen jeden zu motivieren, aktiv Abschied zu nehmen“, sagt Vieweg. „Wir schminken die Verstorbenen auch, wenn die Angehörigen das wünschen.“ Dafür gebe es spezielles Make-up, extra für die tote Haut. Mittlerweile würden in seinem Bestattungsinstitut drei von vier Verstorbenen noch einmal von Hinterbliebenen gesehen.
„Früher war es etwas ganz Natürliches, den Leichnam schön aufzubahren, auch zu Hause“, sagt er. Das habe man nach dem Zweiten Weltkrieg vergessen, das Sterben sei seither verdrängt worden. Vor allem aber hat sich der Umgang mit dem Tod gewandelt: Tradition und Religion rücken hierzulande zunehmend in den Hintergrund. Individuell gestaltete und kostengünstige Beisetzungen sowie pflegeleichte Gräber werden immer wichtiger. Mit rund 55 Prozent ist die Einäscherung inzwischen die verbreitetste Form der Bestattung. Im Gegensatz dazu würden in Deutschland nur etwa vier Prozent der Verstorbenen einbalsamiert, so Vieweg. „Wir haben den Tod aus den Augen verloren“, sagt er. Das soll sich wieder ändern.
Vorsichtig hebt Jörg Vieweg die rechte Hand der Toten, behutsam betrachtet er jeden ihrer Finger einzeln. Mit einem langen, silberfarbenen Schaber entfernt er feinsäuberlich den Schmutz unter ihren Nägeln. Dann lässt er die Hand zurück auf den Edelstahltisch gleiten. „Wer sich etwas Mühe gibt und sich weiterbildet, kann das Ganze auch schön machen“, sagt Vieweg und lächelt dabei.
Derzeit bieten etwa der Bundesverband Deutscher Bestatter e.V. (BDB) oder der Verband Deutscher Einbalsamierer e.V. die Weiterbildung zum geprüften Thanatopraktiker an. Je nach Ausbildungsstätte dauert diese bis zu einem Jahr, mindestens 80 Einbalsamierungen müssen in dieser Zeit vorgenommen werden. Jörg Vieweg hat in seinem Leben bereits an die 800 Menschen einbalsamiert. Jedes Jahr kommen etwa 40 bis 50 Verstorbene hinzu.
Aber: „Nicht jeder, der zu uns kommt, wird automatisch einbalsamiert“, sagt er. Thanatopraktisch versorgt würden die Toten nur auf Wunsch der Angehörigen. „Viele wissen jedoch gar nicht, dass das möglich ist.“ Genauso wenig, wie sie wüssten, was nach dem Tod mit ihren Angehörigen passiere. Was man nicht sehe, könne man schließlich nicht honorieren – oder hinterfragen. Jahrelang habe die Branche von diesem Umstand profitiert.
Denn: Eine thanatopraktische Versorgung sei zeitaufwendig und auch finanziell kaum rentabel. „Das machen Sie nicht, weil Sie Geld verdienen wollen, sondern weil Sie überzeugt davon sind“, sagt Vieweg. An die 30.000 Euro habe er in die Ausstattung und Fortbildungen investiert. Bei ihm koste eine Einbalsamierung knapp 350 Euro, bei einem obduzierten Leichnam 550 Euro. Zum Vergleich: Ein Trauerkranz kostet im Durchschnitt etwa 150 Euro. „Und davon hat eigentlich keiner was“, findet Vieweg. Allerdings ist eine Beerdigung insgesamt durchaus teuer: Nach Schätzungen des BDB kostet eine Bestattung zwischen 2.800 und 5.000 Euro.
Jörg Vieweg macht die thanatopraktische Arbeit „on top“ zu seiner eigentlichen Tätigkeit als Bestatter. Dazu gehöre auch die intensive Betreuung der Angehörigen. Manchmal fliegt er zudem ehrenamtlich ins Ausland, um etwa die Überführung von Verstorbenen aus Katastrophengebieten zu ermöglichen. „Man muss eben ein wenig Aufwand betreiben, um es anders zu machen“, sagt er.
Dann hebt er sorgsam den Kopf der verstorbenen Dame an und legt ihr eine Kopflehne unter. Neben dem graumelierten Haar, glimmern kleine und große Pinzetten. Jörg Vieweg nimmt eine größere in die rechte Hand, in der linken hält er einen dicken Wattebausch. Mit ruckartigen Bewegungen stopft er die Watte stückchenweise erst in das linke, dann in das rechte Nasenloch. Dann tamponiert er den Rachen und den Mund. „Das verhindert, dass bei der Überfahrt Flüssigkeit aus den Körperöffnungen tritt“, sagt er und betrachtet das Gesicht der Toten, das vorher eingefallen war, nun aber prall und stramm wirkt. „Gleich polstere ich noch ihre Kummerfalte aus“, sagt er. „Danach sieht sie richtig schön aus.“
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