Ein letztes Mal Kino

Festival Das DOK Leipzig reagiert kreativ auf Corona – mit einer „Hybridform“ aus Präsenz- und Online-Angeboten
Ausgabe 45/2020

In der Osthalle des Leipziger Hauptbahnhofs war Samstagabend einiges los. Im Zentrum stand ein metallenes Gehege aus Bauzäunen, an dessen Eingang musste man seine persönlichen Daten hinterlassen und bekam einen Sitzplatz in den mit Abstand aufgestellten Stuhlreihen zugewiesen. Über den Treppenstufen, die von der Eingangshalle zu den Gleisen führen und auf denen sich in den vergangenen Jahren das Publikum noch dicht an dicht drängte, schwebte nun die Leinwand. Immer wieder flogen Tauben darüber hinweg. Ein bisschen Wehmut stieg auf. Es war der vorletzte Abend bevor die Kultureinrichtungen erneut für einen Monat schließen mussten. Ein letztes Mal Kino.

Die diesjährige Ausgabe des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm (DOK Leipzig) hatte sich auch Christoph Terhechte anders vorgestellt, als er im Januar dieses Jahres seine Arbeit als neuer Festivaldirektor aufnahm. Seitdem die Kinos im März das erste Mal schließen mussten, ist ein halbes Jahr vergangen – nicht viel Zeit für die Planung eines Events, das für gewöhnlich Kinos als Veranstaltungsort voraussetzt. Sein Ziel war es daher, die Einschränkungen „zu überbrücken“.

Möglich wurde das durch die Einrichtung der sogenannten Hybridform für das Festival: „Schau DOK wo du willst“, lautete das Motto. Alle Filme liefen zwar wie immer in den Leipziger Kinos, waren nun aber auch, einen Tag nach ihrer offiziellen Premiere, auf einer Online-Plattform abrufbar. Die Filmemacher wiederum konnten Corona-bedingt nicht anwesend sein, dafür boten die Online-Formate gleich verschiedene Möglichkeiten, mit dem Publikum in Kontakt zu treten. So standen die traditionellen Q&As mit den Filmemachern, egal ob im Vorfeld aufgezeichnet oder live gestreamt, in einer Mediathek auch noch später zur Verfügung. So selbstverständlich die Nutzung von digitalen Angeboten geworden scheint: dass sie reibungslos funktionieren, ist selten. Umso erfreulicher, dass schon beim ersten Anlauf in Leipzig alles wie am Schnürchen lief: Zugriff, Abspielbarkeit und Aktualität.

Heile Welt Zirkuszelt

Natürlich standen die Neuerungen im Zeichen der Pandemie dieses Jahr zunächst im Vordergrund der Aufmerksamkeit. Dabei sollte die entscheidende personelle Neuerung nicht vergessen werden. Fünf Jahre lang hatte die Finnin Leena Pasanen das Festival geleitet, nicht alle waren zufrieden mit ihr. Der Neue ist Christoph Terhechte, zuvor langjähriger Leiter des Internationalen Forums der Berlinale und kurz auch künstlerischer Direktor des Internationalen Filmfestivals Marrakesch. Eine seiner sichtbarsten Reformen betraf die Preise: Neben den Goldenen Tauben wurden in diesem Jahr erstmalig auch wieder Silberne Tauben für Nachwuchsregisseure und, besonders symbolträchtig, Publikumspreise vergeben. Der in Münster geborene Terhechte ging mit seinem Team damit einen bewussten Schritt auf die Leipziger*innen zu: In der Jury für die neu eingeführte Wettbewerbssektion „Der Goldene Schnitt“, in der Dokumentar- und Animationsfilme in langer und kurzer Form nominiert sind, entscheiden sieben Leipzigerinnen und Leipziger über die Preisvergabe. Sonderreihen aus dem Sächsischen Staatsarchiv und Ausgrabungen aus der DEFA-Filmgeschichte zeigen die Bemühungen um einen Bezug zur Stadt und ihren Bewohnern. Aber auch die Fortführung von Tradition steht im Fokus: Mit der Retrospektive „Re-Visionen“ zum 25-jährigen Jubiläum des Animationsfilms betonte Terhechte die Sparte Animation des sonst so stark vom Dokumentarfilm bestimmten Festivals.

Die übliche Anzahl von fast 300 Filmen wurde in diesem Jahr auf etwa die Hälfte geschrumpft, was der Fülle an vertretenen Themen dennoch keinen Abbruch tat. Besonders viele Filme drehten sich in diesem Jahr um das Thema Familie und Familienkonstellationen. Dazu gehörte auch der Film Joy der russischen Regisseurin Daria Slyusarenko im Internationalen Programm, die einen Zirkus auf seiner Reise durch Russland begleitet. Im Zirkuszelt herrscht für die zuschauenden Kinder und Eltern heile Welt: Ein lustiger Clown versucht seine Mensch gewordenen Instrumente zu dirigieren und Papageien werden durch Hula-Hoop-Reifen gewirbelt. Doch jenseits der Show zeigt sich der herausfordernde Alltag der Darsteller: bei Diskussionen um die richtigen Showelemente, um Nationalismus und romantische Beziehungen. Slyusarenko scheint immer dabei zu sein, wenn es Stress gibt. Ihre Nähe zu den Protagonisten ist so radikal ehrlich, dass man die ins Streaming-Wohnzimmer transportierte Spannung kaum aushält.

Den mit 10.000 Euro dotierten Hauptpreis im Wettbewerb Langer Dokumentarfilm bekam jedoch der kongolesische Regisseur Dieudo Hamadi für seinen Film Downstream to Kinshasa. Hamadi zeigt darin die zivilen Opfer einer Schlacht zwischen ugandischen und ruandischen Truppen im Jahr 2000, die mit beeindruckender Ausdruckskraft für ihre Rechte kämpfen. Einen Blick aus Deutschland heraus wagt auch Lift Like a Girl von Mayye Zayed, der Gewinnerfilm der Deutschen Wettbewerbssektion. Zayed begleitet in ihrem Film die 14-jährige Asmaa in Ägypten auf ihrem langen Weg zur Oberliga des Gewichthebens, kompromisslos geführt durch ihren Trainer.

Die Hybridform hat sich in diesem jahr bewährt – aber wie wird es weitergehen, jenseits der Pandemie? Für Terhechte liegt die Priorität des Festivals weiterhin auf dem Kino und dem Austausch unter den Gästen. „Das Festival zu erweitern und zu sagen, es können noch mehr Menschen partizipieren“, diesen Aspekt der Hybridform werde man allerdings ausbauen und behalten wollen.

DOK Leipzig hat Glück gehabt. Die bundesweite Anordnung zur Kinoschließung trat genau einen Tag nach dem offiziellen Ende des Festivals in Kraft. Der Unmut bei den Kinobetreibern jedoch ist groß, wieder und wieder wird betont, dass schließlich kein einziger Covid-Fall bekannt sei, der durch einen Kinobesuch entstand. Ein erneuter vierwöchiger Lockdown sei nicht zu verkraften, sagte auch Christine Berg, Vorständin des Hauptverbands Deutscher Filmtheater. Die Besucher des DOK Leipzig allerdings können das Festival noch zwei Wochen in der virtuellen Welt wahrnehmen – konform zu den Maßnahmen.

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