Um genau zu sein

Kunst Frauen und Nicht-Weiße werden marginalisiert. Ohne ihre Stimmen aber verstehen wir die Welt nicht
Ausgabe 42/2018

Die aktuelle Ausstellung über Verschwörungstheorien am NRW-Forum in Düsseldorf hätte durch den Untertitel „Der Nervenkitzel des weißen Mannes“ ergänzt werden können: Auf der Einladung war neben zwölf weißen Künstlern und drei Kollektiven eine weiße Künstlerin genannt. Es ist kein Einzelfall, sondern ein wiederkehrendes Phänomen: Ein universelles Thema wird (beinahe) ausschließlich von einer Minderheit weißer Männer behandelt. Dabei wird an dieser Gruppe noch immer eine unausgesprochene Norm festgemacht. Formate, die die Stimmen der sogenannten Anderen herausstellen, werden als solche deklariert: Fotografie von Frauen hier, afrikanische Poesie dort. Noch nie war die Ankündigung zu lesen: „Weiße Männer denken über die Stadt im 21. Jahrhundert nach.“

Die Hamburger Kunsthalle zeigte gerade die Schau Entfesselte Natur über Naturkatastrophen in der Kunst. Unter den über 100 Ausgestellten fanden sich lediglich vier Künstlerinnen. Aus der Fülle der Naturkatastrophen, die sich seit 1600 auf der Welt ereignet hatten, wurden fast ausschließlich Arbeiten zu Katastrophen in Europa ausgewählt. Die wenigen außereuropäischen Desaster wurden von deutschen Künstler*innen repräsentiert. Außereuropäische Kunst und Künstler*innen kamen in dieser internationalen Ausstellung nicht vor.

Wird dann Kritik an solchen Kulturprojekten geäußert, folgen die immer gleichen Reaktionen: Zuerst werden Ton und Mittel des Protests beanstandet sowie mangelnde Expertise unterstellt, darauf folgt vermehrt die besorgte Feststellung, es gebe einen Trend „weg von der Ästhetik hin zur Ethik“ (Hanno Rauterberg). Die Befürchtung ist, dass ästhetische Kategorien gegenüber politischen Sensibilitäten das Nachsehen haben. Multikulturalismus und politische Korrektheit, die die Kunstfreiheit einzuengen trachten, werden in krasser Realitätsverschiebung als Bedrohung moderner Demokratien dargestellt. Ein Hohn in Anbetracht der tatsächlichen Gefahr, in der sich Menschen befinden, die zum Ziel rassistischer, sexistischer, sozialer, homo- oder transphober Gewalt werden können.

Aus der Einforderung von politischer und sozialer Sensibilität eine Gefahr für die Kunstfreiheit zu schließen, wendet die Debatte ins Zynische. Eine Kunstfreiheit, die die Freiheit vieler beschneidet, verdient ihren Namen nicht.

Wer Quoten vehement ablehnt und diese nur als ein Nummernspiel begreift, das die Qualität von Kunst gefährdet, geht davon aus, dass zuvor unterrepräsentierte Stimmen nicht über Poesie, Handwerk, Dringlichkeit und Originalität verfügen, dass sie nichts weiter zu sagen haben, sondern nur als Repräsentant*innen ihrer jeweiligen Gruppe fungieren. Die Behauptung, dass Frauen einfach keine gute Kunst machten, taucht hartnäckig immer wieder in Debatten auf. Die Quote mag kein elegantes Werkzeug sein, aber ein probates, wie andere Felder zeigen, in denen auch durch pure Einsicht kein Platz gemacht wurde.

Ein Bruchteil der Welt

Auch die vermeintlich progressive Kunstwelt operiert nicht losgelöst von der Gesellschaft, von deren Werten und Strukturen. In der Konzeption von Programmen ebenso wie in der Infrastruktur von Institutionen lassen sich zahlreiche Formen der Diskriminierung und des „Otherings,“ also des Fremdmachens, feststellen. Bleiben die die Erfahrungen, und Imaginationen eines Teils der Gesellschaft ungehört, bleibt dieser unverstanden. Der Ausschluss dieser Geschichten verhindert Identifikation und Empathie und erleichtert dadurch gewaltvolle Ausgrenzung. Diesen Blickwinkel nennt die Autorin Chimamanda Ngozie Adichie „die Gefahr der alleinstehenden Geschichte“. In ihrer Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse 2018 wiederholte sie ihren Appell: „Diese Zeiten erfordern Mut (...), diese Zeiten erfordern komplexere Geschichten, diese Zeiten erfordern Unerschrockenheit im Geschichtenerzählen (...) Es ist wichtig, eine große Vielfalt an Stimmen zu haben, nicht weil wir politisch korrekt sein wollen, sondern weil wir präzise sein wollen. Wir können die Welt nicht verstehen, wenn wir weiterhin so tun, als sei ein kleiner Bruchteil der Welt repräsentativ für die ganze Welt.“

Der EIGE-Gleichstellungsbericht von 2017 stellt fest, dass Frauen lediglich 16 Prozent der Positionen mit Entscheidungsbefugnis in wichtigen Kultureinrichtungen besetzen. Auch Häuser mit programmatischer Ausrichtung jenseits des europäischen und nordamerikanischen Raums weisen einen überwiegend homogenen Personalschlüssel auf: In den Entscheidungsebenen sind mehrheitlich weiße Männer tätig, keines dieser Häuser, wie das Humboldt-Forum oder das Haus der Kulturen der Welt, wird von einer Leiterin oder einem Leiter of Color geführt.

Benachteiligung passiert täglich und ist historisch verankert – wenig an dem, was #MeToo oder #MeTwo sagen, ist neu. Es wäre vermessen, diese Bewegungen losgelöst von der Arbeit zu betrachten, die von Akteur*innen der feministischen, antirassistischen und queeren Theorie und Praxis seit Jahrzehnten geleistet wird. Es gilt, das aktuelle Momentum über den Augenblick auszudehnen – durch Anerkennung von Diskriminierungserfahrungen, durch Solidarität, durch beständiges Einfordern von verbrieftem Recht.

Anna Jäger ist Kuratorin und Mitglied des Kunstraums Savvy Contemporary in Berlin

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