Es ist Freitagvormittag, und in der Altstadt von Jerusalem gehen die T-Shirts der israelischen Armee im Minutentakt über die Ladentheke. Ist das die richtige Größe? Soll ich noch eins für meinen Bruder mitbringen? Fragen schwirren durch die drei kleinen T-Shirtläden, die eben von rund 40 Jugendlichen gestürmt wurden. Schnell muss es gehen, die Mittagspause ist nur eine halbe Stunde lang. Und ein Andenken ist doch wichtig, schließlich ist es ja nicht irgendein Urlaubstrip, sondern eine Reise, über die sie am Ende alle sagen werden: „Sie hat mein Leben verändert.“
Zehn Tage Israel, einmal quer durchs Land: Vom Strand in Tel Aviv zum Trekking in den Golan, ans Tote und ans Rote Meer, zum Grab von Staatsgründer Ben Gurion, nach Jerusalem und zur Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem. Sie besteigen im Morgengrauen Masada, den Berg, auf dem einst jüdische Rebellen ihre Festung gegen römische Legionäre verteidigten. Auf dem Mount Herzl, zwischen den Grabsteinen des größten israelischen Soldatenfriedhofs, sprechen sie ein Gebet.
Die Reisegruppe kommt diesmal aus den USA, ein Bus voller Collegekids aus dem Nordosten, keines von ihnen hat auch nur einen Cent für den Trip bezahlt. „Birthright Israel“ heißt das Programm, mit dem sie unterwegs sind. Es bietet so etwas wie Staatsbürgerkunde mit touristischen Mitteln: Jeder Jude zwischen 18 und 26, der nicht in Israel lebt, kann sich für die Reise anmelden, seit 2000 sind mehr als 200.000 Menschen so nach Israel gekommen, aus 52 Ländern. Finanziert werden die Reisen durch private Spenden und aus Mitteln der israelischen Regierung.
Wer war noch mal der Herzl?
Initiiert wurde „Birthright Israel“ von zwei US-Amerikanern, Charles Bronfman und Michael Steinhardt. Sie sorgten sich, dass Juden in der Diaspora den Kontakt zu ihren Wurzeln verlieren könnten. Die Bildungsreisen sollen die jüdische Identität der Teilnehmer stärken, ebenso wie ihre Verbindung zu Israel. „Assimilation ist heute eine größere Bedrohung für die Juden als Antisemitismus“, hat Birthright-Geschäftsführer Gidi Mark einmal gesagt.
Am Anfang wurde „Birthright“ in den israelischen Medien kritisiert, als ein teures Programm mit ungewisser Aussicht auf Erfolg. Doch die Rechnung ging auf: Mittlerweile haben Umfragen unter ehemaligen Teilnehmern ergeben, dass sich viele auch Jahre nach der Reise Israel „in besonderer Weise“ verbunden fühlen. 10.000 davon haben sich inzwischen nach Angaben der Organisation in Israel niedergelassen.
Nach dem T-Shirt-Kauf geht es für die US-Studenten weiter durch Jerusalem: Ölberg, Cardo, Davidszitadelle, Klagemauer. Als in einem Museum ein Film gezeigt wird, der das alte Jerusalem rekonstruiert, fallen vielen die Augen zu. Kein Wunder, die Nächte im Hotel sind lang. Und anders als in den USA gibt es in Israel Alkohol ab 18. Einige Pärchen haben sich auch schon gefunden.
Es ist die Mischung aus Identitätssuche und Klassenfahrt, die „Birthright“ erfolgreich macht. Sie schafft ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das bleibt: Am letzten Tag der Reise weiß die blondgelockte 20-Jährige zwar immer noch nicht, wer jetzt genau dieser Herzl war und wie der israelische Ministerpräsident heißt. Sie habe erst gezögert, nach Israel zu reisen, sagt sie, „schließlich hört man ständig in den Nachrichten, wie gefährlich es hier ist“. Aber Angst habe sie hier keine gehabt. „Und das Gefühl, in einem Land zu sein, in dem nur Juden leben, ist etwas ganz besonderes.“
Zwar sind ein Fünftel der israelischen Bevölkerung Araber, doch die bekommen die Birthright-Reisenden nicht zu Gesicht, genauso wenig wie Palästinenser aus dem Westjordanland oder aus Gaza. Es ist eine Reise, bei der der Nahost-Konflikt nur am Rande vorkommt. In Jerusalem führt der Rundgang durch die Altstadt allein durch den jüdischen Teil. Mit einer Gruppe durch das muslimische Viertel zu laufen, wäre zu gefährlich, sagt der Gruppenleiter.
„Birthright Israel“ präsentiert kein unwahres Bild, aber ein unvollständiges – so wie jede gut gemachte PR. Aber kann man Jerusalem begreifen, ohne sich durch das Gewusel am Damaskustor durchzudrängen, den Tempelberg zu besuchen oder die Kreuzträger zu sehen, die mehrmals täglich die Via Dolorosa ablaufen? Kann man Israel begreifen, ohne vor der Sperrmauer zu stehen oder eine Siedlung zu sehen?
Jenseits der Sperre
Kann man nicht, sagt Hannah Mermelstein. Auch sie ist amerikanische Jüdin und gemeinsam mit einer Freundin hat sie „Birthright unplugged“ gegründet. Es ist das Gegenstück zu dem Massenprogramm, hat eine ähnliche Zielgruppe, findet aber auf der anderen Seite statt: im Westjordanland. Hannah Mermelstein gefiel es nicht, dass die „Birthright“-Trips die palästinensische Seite vernachlässigten. Inzwischen fährt sie einige Male im Jahr mit Gruppen junger Nicht-Israelis sechs Tage lang durch das Westjordanland. Sie treffen dort Familien und politische Aktivisten, besuchen das Kindertheater in Dschenin und übernachten in Privathäusern. Mermelstein tritt für die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge ein, sie empfindet es als ungerecht, dass Juden aller Nationalitäten laut Gesetz nach Israel einwandern dürfen, während den palästinensischen Flüchtlingen die Rückkehr verwehrt bleibt. Seit neuestem organisiert sie deswegen unter dem Namen „Birthright unplugged“ auch Reisen für arabische Kinder aus dem Westjordanland in die ehemaligen Dörfer ihrer Familien in Israel.
Am letzten Abend der „Birthright“-Reise sitzen die College-Studenten im Stuhlkreis und sollen ihre Erfahrungen schildern. Ein einmaliges Erlebnis, da sind sich alle einig, das sie zum Nachdenken gebracht habe, über ihre Identität und ihre „zweite Heimat“. Wenn Israel angegriffen würde, sagt einer, würde er sich sofort zur israelischen Armee melden. Die Teilnehmer wollen auch in den USA Kontakt halten. Und nach Israel zurückkehren. Vielleicht trauen sich ein paar dann ja auch auf die andere Seite: Einige „Birthright“-Ehemalige sind jedenfalls schon mit Hannah Mermelstein ins Westjordanland gefahren.
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