Liebe, die zuschlägt

ROMAN Susanne Riedels Erstling "Kains Töchter" schubst den Leser in menschliche Abgründe

Mutter und Schwester nähern sich dem Fluss. Jetzt sind sie auf der Brücke. Kurz darauf verschwunden. Die 17jährige Joa hat einen Augenblick weggeschaut. Minuten später zieht sie nur noch die vierjährige Schwester Timpie atmend aus dem Wasser. Die Mutter liegt im Schilf, mit der Faust umklammert sie eine kleine, spitze Schere. Was geschah an diesem Tag auf der Brücke und warum?

Diese Fragen kehren Jahre später zurück zu Joa. Beim Tod der Schwester und ihrer eigenen Tochter. Das Unglück tritt weitere Erinnerungen in ihr los. Joa, inzwischen Ehefrau und erfolgreiche Ärztin, zieht zum Feldzug in die Vergangenheit. Das Haus ihrer Kindheit entpuppt sich als Tollhaus, in dem die Familie Bettchen-wechsle-dich spielt. Drei Generationen wohnen unter einem Dach, das jüngste Familienmitglied ist die zarte Timpie. Die isst am liebsten Dreck und muss als Punchingball herhalten. "Mutters Kiefer knackten und rasselten sonderbar, wenn sie meine Schwester endlich schlug. Das war eine Erleichterung, man wusste, dass es bald vorbei war." Doch die Autorin Susanne Riedel teilt nach allen Seiten aus. Ob Mutter, Onkel, Vater, Timpie oder Joa selbst - alle stecken Tiefschläge ein und geben sie aneinander weiter.

Dabei ist Kains Töchter eigentlich ein Buch über die Liebe. Joa buhlt um die Liebe ihres Vaters und trifft auf der Suche nach Liebe ihren Mann. Letztendlich ist sie aber unfähig, Liebe zu empfinden. Stattdessen rüstet die Autorin sie mit einer gehörigen Portion Selbstekel aus, den Joa sich und anderen angedeihen lässt. Ihre gewalttätigen Ausfälle entbehren sprachlich nicht der Erotik des Schmerzes: "Ich schlug sie, weil es mich so erfüllte, ich konnte nicht fühlen, was ich traf, aber sie gab nach, etwas brach auseinander, Erlösung, dachte ich, während ich weiter hin und her raste, auf der Farbe, den Pinseln herumtrampelte. Ich stieß sie mit den Füßen, und Timpies Kopf flog auf diesem zerbrechlichen Hals herum, sie hielt ihn fest mit beiden Händen. (...) Etwas geht entzwei, etwas bewegt sich nicht, etwas erinnert sich. Mama. Du bleibst, wie du bist, sagt unsere Mutter, und deine Jahre nehmen kein Ende."

Joa flieht aus dem Dorf in die Stadt, in den Beruf, die Ehe und die Mutterrolle - umsonst. Sie bleibt eine Tochter Kains - den Gott abgewiesen hatte, und der seinen Bruder ermordete. Als Leser hat man durchaus Verständnis für Gott, denn die Figur der Joa ist ebenso unsympathisch wie Kain. Ihre (Selbst-) Hasstiraden sind ermüdend: "Joa Leghorn, das Nichts. Es befriedigte mich ungemein, beim Anblick von Rebekkas Haarwogen und ihrer kurzen, geraden Nase mein Mantra vor mich hin zu denken, Joa, das Nichts, der Fehlgriff, Joa, Joa, das Nichts." Sich ihr zu nähern ist beinahe unmöglich, und diese Distanz baut sich auch zum Buch auf. Der Roman ist eindrucksvoll und bilderreich geschrieben - aber wer ihn umarmen will, der wird sich verletzen.

Susanne Riedel, Kains Töchter, Rowohlt Verlag, Berlin 2000, 331 S. 38,- DM.

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