Vinge packt die ­Pimmelpuppe aus

Bühne Drei Wochen lang wurden im Rahmen des 49. Berliner Theatertreffens die "bemerkenswertesten" Theaterinszenierungen der vergangenen Spielsaison gezeigt. Eine Bilanz

Das Berliner Theatertreffen, die Auswahl der zehn „bemerkenswertesten“ Aufführungen, ging am Montag mit einem grandiosen Platonov zu Ende. Mit seiner Tschechow-Inszenierung feierte der lettische Regisseur Alvis Hermanis triumphal das ausgereifte Schauspielertheater. Mit souveräner Bescheidenheit zelebrierte das Ensemble der Wiener Burg, angeführt von Martin Wuttke in der Rolle des Zynikers Platonov, mit den prachtvollen Mitteln des Illusionismus (Bühne: Monika Pormale), wie eine kleine Gesellschaft auf einem russischen Landgut an der Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit zerbricht.

Wuttkes Platonov, gescheiterter Akademiker und verzweifelter Idealist, ist der Hexenmeister, der zwanghaft den Finger in die Wunden legt. Hermanis schafft Spannung durch Darstellungsentzug: Bis ins kleinste Detail realistisch sind der Salon und die Veranda ausgeschmückt. Aber das Geschehen ist nicht fokussiert. Leise, gleichzeitig, nach hinten wird gesprochen. Es ist ein radikaler Realismus, der sich überschlägt und dabei ins Gegenteil verkehrt.

Zum Auftakt des Theatertreffens hatte Johan Simons von den Münchner Kammerspielen mit Gesäubert / Gier / 4.48 Psychose einen dreiteiligen Sarah Kane Abend mitgebracht, der trotz hochkarätiger Besetzung (Sylvana Krappatsch, Annette Paulmann, Sandra Hüller) mit einem äußerlichen Zugriff auf die kunstvollen, verquälten Stücke der britischen Autorin nicht recht überzeugen konnte. Karin Henkels Macbeth mit Jana Schulz in der Titelrolle und einem stark reduzierten Ensemble blieb ebenfalls undeutlich.

Kunst und Potenz

Die Kultveranstaltung des diesjährigen Treffens war ohne Frage der beserkerhaft ausufernde vierte Teil der Ibsen-Saga John Gabriel Borkmann am Prater der Volksbühne, erfunden und performt vom Kollektiv um den norwegischen Künstler Vegard Vinge. Die drastische Inszenierung der psychiotischen Zustände im Hause Borkmann – die vom Publikum mit Lustgrusel erwarteten Skandalszenen werden nach Gusto des Meisters angesetzt – war Schocker und Rocker zugleich. Nicolas Stemann, der mit einem knapp neunstündigen Hamburger Faust I + II vertreten war, gab sich bei der Podiumsdiskussion „Waste my Time“ enttäuscht, dass Vinges Abend länger war, als seiner. Dass Vinge seinen Schwanz während der Performance bei jeder Gelegenheit aus der Hose holte, mit ihm als Handpuppe über Videokamera das Publikum begrüßte, war eine bezeichnende Fußnote zum Thema Kunst und Potenz.

Wie die Zusammenarbeit zwischen subventionierten Häusern und freien Gruppen auch zu dokumentarischen Formen führen kann, zeigte unter anderem eine vom Hebbel am Ufer koproduzierte Produktion. Milo Raus Reenactment zum Genozid in Ruanda Hate Radio lässt die Moderatoren des Propagandasenders von Überlebenden des Völkermords spielen.

Zusätzlich zu den von der Jury ausgewählten Inszenierungen lief die aufregende Aufführung Conte d’Amour, Preisträgerstück des Impulse-Festivals 2011, von Markus Öhrn, dem finnischen Kollektiv Nya Rampen und der schwedischen Gruppe Institutet, produziert am Ballhaus Ost. Den männlichen Performern gelang es während ihrer dreistündigen fast sprachlosen Performance Lust und Gefahr libidinöser Verstrickung in einem geschlossenen System zu zeigen. Dass die Aufführung in der Riege der von der Jury ausgewählten Produktionen nicht weiter auffiel, kann als gute Nachricht vom Theatertreffen gewertet werden.

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