Fünf mal doppelt

Sportplatz Kolumne

Jetzt wird wieder alles anders. Alle zwei Jahre ist das so. Diesmal steht die Fußball-Europameisterschaft in Portugal an und die Männer haben plötzlich glänzende Augen und gute Laune. Der Wohnzimmertisch wird leergeräumt und abgewischt und bis zum Abpfiff liegt darauf nur ein Gegenstand: Das lang ersehnte EM-Klebebildchen Sammelheft. Manche schlagen das Panini-Büchlein vorsorglich in Schutzfolie ein und schreiben ihren Namen darauf. Der Tisch wird Altar und bildet fortan den wohlgehüteten Mittelpunkt des Lebens.

Der Mann in den besten Jahren - um die 30, sozialisiert mit Nintendo und gerade dabei, sein Studium abzuschließen - gönnt sich fortan jeden Tag vier, fünf Päckchen beim Kiosk. Eins kostet 50 Cent und beinhaltet fünf Bilder. Darauf sind die Spieler aller Mannschaften abgebildet, einzeln, als Team, die Wappen, das offizielle Maskottchen und der Pokal - den will natürlich jeder haben. Insgesamt sind es genau 334 Bilder, die in das Sticker-Album gehören.

Das Design des Heftes ist erschütternd. Herz- und Spiralornamente sowie Fußbälle verzieren die Seiten und vorneweg erklärt eine Comic-Maus das Sammlerleben: "Hast du doppelte Bilder, heißt die Devise: Tauschen, tauschen, tauschen!" Aber erst mal natürlich sammeln, sammeln, sammeln!

Die ganz Gierigen reißen die kleinen Tütchen schon auf dem Rückweg vom Kiosk hastig auf, um sie auf Doppelte hin zu untersuchen. Zuhause angekommen geht der glückliche Mann zum Kühlschrank, holt ein Bier und ordnet dann die Neuzugänge fein säuberlich in zwei Stapel, in "einkleben" und "tauschen". Um den "Doppelt"-Stapel kommt anschließend ein Gummi, damit er transportabel ist, denn ohne die Tauschkarten lohnt es sich in keinem Fall, das Haus zu verlassen. Das Einkleben geschieht genussvoll langsam und mit Präzision: Nummer zwischen Rahmen und Karte vergleichen, die Schutzfolie ablösen, vorsichtig anlegen, sanft von unten nach oben glatt streichen, zählen wie viele von der Mannschaft schon beisammen sind und mit einem liebvollen Blick Abschied nehmen, um umzublättern. Das ist das Ritual. Es soll auch Herren geben, die erst abends im Bett ihre Angetraute dazu anhalten, die neu erworbenen Tütchen zu öffnen und die Namen der darin verborgenen Spieler zu verlesen. Worauf der Gatte auswendig das zugehörige Land zu nennen hat, ob und wenn wie oft das betreffende Kärtchen schon in seinem Besitz ist und - Kür - die zugehörige Klebe-Nummer im Heftchen rät.

Je vollständiger die Mannschaften, desto höher der Ehrgeiz der Jäger. Die schwer gealterte "peer group" kontaktiert sich per Handy ununterbrochen, die neuesten Käufe werden durchgegeben und Tauschforen vereinbart. Diverseste Gruppen 30-Jähriger verhandeln dann, mitunter auch auf Grundschulhöfen, in gegebenem Ernst: "Hast du Spanier?", "Tauschst du Ruben Baraja und Raul Bravo gegen das italienische Wappen?" Nur hierfür wird die Reliquie gegebenenfalls vom Wohnzimmertisch entfernt - gut verpackt, versteht sich.

Für die Kioskbesitzer ist Hochkonjunktur. Außer für Göko. Der hat einen Kiosk in Berlin, im Prenzlauer Berg auf der Schönhauser Allee, und sammelt, an der Quelle lebend, selbst die kostspieligen Klebefolien. Wer hier die Tütchen kauft, wird sofort angesprochen und als Tauschpartner akquiriert. Der Kioskbesuch dehnt sich dementsprechend aus, denn Göko verwahrt seinen Doppelten-Stapel immer präsent unterm Ladentisch. Bei schönem Wetter ist sein Laden voll, die Leute quatschen, verhandeln und gehen gutgelaunt. Die Europameisterschaft wird er selbstredend in seiner Bude übertragen.

Das Schöne ist: bis zur WM hat man einiges gelernt und erkennt alle Spieler der teilnehmenden Mannschaften auch auf kleinem Bildschirm, was das obligatorische professionelle Kommentieren beim gemeinschaftlichen Gucken schwer erleichtert. "Cooler Typ, den hab ich fünf Mal doppelt!"

Doch selbst im dicksten, bestgefüllten Album klafft eine schmerzliche Lücke. Denn ausgerechnet Michael Ballack - der Schöne - und Oliver Kahn - hoffentlich dann wieder unser deutscher Titan - fehlen in der Glanzbild-Sammlung. Ihre Gesichter wurden nicht gedruckt. Ist das ein schlechtes Omen? Schließlich fehlten bei den Weltmeisterschafts-Sammelbildchen vor zwei Jahren zunächst alle Iren. Und obwohl man sie schleunigst nachproduzierte, konnten sie sich diesmal nicht qualifizieren und sind deshalb gar nicht dabei...

Das Ende vom Lied ist auf jeden Fall immer dasselbe: Das Heftchen wird vom Wohnzimmertisch genommen, der Mann rekapituliert kurz vor seinem ballrunden Auge die entscheidenden Szenen der vergangenen Zeit, um dann, nicht ohne eine Träne im Augenwinkel, die Europameisterschaft 2004 neben die Weltmeisterschaft 2002 ins Regal zu stellen. Alles hat eben ein Ende und immer wenn´s am Schönsten ist, soll man aufhören.


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