Rondo Doloroso

Klangwust In der Berliner Philharmonie spielt regelmäßig ein Orchester gewerkschaftlicher Hochkultur. Mit großem Erfolg

Der Saal ist ausverkauft bis zum letzten Platz. Die Schluss-Akkorde verdonnern in der asymmetrischen Kulisse der Berliner Philharmonie und schon brandet Applaus auf. Begeisterte Zuschauer unter den knapp 2.500 Leuten erheben sich von ihren Sitzen und rufen laut "Bravo". Obwohl ich schon seit 18 Jahren Musik mache und Konzerte spiele, bin ich in diesem Moment verwirrt. Wir stehen auf der Bühne, schütteln uns die Hände und klappen die Noten zu.

Vor wenigen Tagen hatte eine Konzert-Agentur bei mir angerufen, es sei eine Cello-Vakanz zu vergeben, zwei Proben à drei Stunden plus Konzert, ob ich einspringen könne. Eigentümlicherweise hatte ich mich nie bei dieser Agentur angemeldet, geschweige denn, wie sonst üblich, mein Können bei einem Probespiel unter Beweis gestellt. Teils aus Neugierde, teils aus Geldnot sagte ich zu.

Zwei Tage bleiben mir von diesem Zeitpunkt an, um für das abendfüllende Tschaikowsky-Programm zu üben. Die Noten, die ich beim Pförtner der Philharmonie abhole, sind in denkbar schlechtem Zustand, nur notdürftig mithilfe von Tesafilm-Flächen zusammengehalten, zum Teil sogar handschriftlich, und dementsprechend zweideutig kopiert. Eine Flut von virtuosesten Sechzehntel-Läufen springt mir entgegen - keine leichte Übung.

Nach einer ruhelosen Nacht und nur flüchtig vorbereitet komme ich zur ersten Probe. Die Philharmonie-Kantine hat Hochbetrieb. Fast alle Tische sind belegt mit Frühstückern und Kaffeetrinkern. Von einem freien Platz aus will ich meine zukünftigen Mitspieler begutachten, schon ein flüchtiger Rundblick zeigt, dass ich mindestens 40 Jahre jünger sein muss als der Durchschnitt der hier anwesenden Orchester-Musiker. Offenbar bin ich in ein musikalisch aktives Altersheim geraten, das in zwei Tagen die Philharmonie beschallen wird.

Um 10 Uhr soll die Probe beginnen. Vorsichtshalber setze ich mich ans letzte Pult, um möglichst unauffällig zu bleiben. Direkt vor mir üben zwei sympathische Greise Bratsche. Sie scheinen die Noten noch nie zuvor gesehen zu haben, jedenfalls kleben sie buchstäblich am Pult, so, als müssten sie jeden Ton erst entziffern. Ihre rechte Bogenhand allerdings ist von so ungebändigter Kraft, dass sich beim Spiel ein unangenehm schabender Beiklang ergibt. In diesem Moment habe ich eine Vision: Sir Simon Rattle, der Chef des Hauses, kommt, hört, und scheucht uns alle hinaus - ein alter Herr ist zu langsam und wird von Rattles Taktstock tödlich getroffen, die Instrumente verbrennen in einem lodernden Flammenmeer.

Ein Pulk vornehmlich alter Herren, fast alle aus Russland oder Polen, wie sich heraus stellt, trudelt nun gemächlich samt Instrumenten und diversen Tafeln Schokolade als Proben-Proviant ein. Unterbrochen werden die Stamm-Spieler nur von einigen Studenten, die offenbar, genau wie ich, eingesprungen sind, um das Orchester optisch und akustisch aufzupeppen. Der Dirigent erklimmt sein Podium, er ist ein Bilderbuchexemplar, leicht untersetzt, mit langen, wallenden Haaren und einer immer irgendwie betroffenen Mimik erinnert er an André Rieu, nur älter. Er hebt seinen Taktstock und unmittelbar ertönt ein schräger, schroffer Klangwust aus unseren Reihen, aber niemand außer mir scheint sich darüber zu wundern. Wir spielen, so gut es eben geht - und manchmal geht es gar nicht - das halbe Programm, und als der Maestro bestimmte Stellen, "problematische Geschichten", wie er sich ausdrückt, wiederholen und verbessern will, schreit ein kleiner, zwergenhafter Opa mit weißen Slippern und Schirmmütze aus den zweiten Geigen laut "Erst mal Pause". Hier herrscht gewerkschaftliche Hochkultur, ein arbeiterfreundliches, rein handwerkliches Verständnis von Musik. Hauptsache, die Töne sitzen in etwa, und es ist laut und leise an den richtigen Stellen. Einmal verstanden, kann ich mich damit gut arrangieren. Die Instrumente werden also weggelegt und der Pulk strömt, es ist 11.30 Uhr, zur Kantine. Ein etwa siebenköpfiger Herren-Club trinkt entspannt das erste, morgendlich frische Bier.

Nach genau drei Stunden ist die erste Probe zuende, wir haben alles einmal durchgespielt, abgehakt. Anfragen von Freunden, ob ich sie in das Konzert schleusen könnte, lehne ich nachmittags entschieden ab.

Am nächsten Morgen, der letzten Probe vor dem Konzert, spielt sich dasselbe Szenario ab, nur dass sich die Solistin für das Klavier-Konzert dazugesellt hat. Mittlerweile kenne ich schon einige Kollegen insbesondere aus den tiefen Streichern, mehrere faltige Hände klopfen mir zur Begrüßung freundlich auf die Schulter. Bei jeder schwierigen Stelle, die unsere Cello-Gruppe überstanden hat, dreht sich der Solo-Cellist begeistert um, und langsam macht das Ganze Freude. Ich denke mir, das Konzert bringen wir schon über die Bühne, die Leute - hoffentlich niemand von meinen Bekannten - werden sicher nicht zu zahlreich erscheinen, ihre Hörgeräte bis zum Anschlag aufdrehen, die Stücke zumindest wieder erkennen und sich an den lauten Pauken und Posaunen erfreuen. Im Probenverlauf wird auch heute wieder - immerhin ist es die Generalprobe -, jede ästhetisch motivierte Wiederholung mit missmutigen Kommentaren quittiert: "Oh nä, jetzt blättert der schon wieder zurück". Das Orchester scheint wirklich mit sich im Reinen zu sein und die Ansprüche seines Publikums gut einschätzen zu können.

Am Tag des Konzerts bin ich völlig entspannt, bis mir vor der Philharmonie die ersten "Suche Karten"- Schilder begegnen - das muss eine Verwechselung sein, denke ich und liege damit falsch. Denn obwohl das Konzert erst in einer dreiviertel Stunde beginnt, haben sich schon Schlangen gebildet, und auf dem Parkplatz stehen mehrere Reisebusse, "Berlin-all-inclusive". Die Herren und Damen des Orchesters haben sich in Schale geschmissen und sind nicht im geringsten über den Andrang erstaunt. Die Fracks sind mindestens so alt wie ihre Träger, mit ihren dezent geplatzten Nähten versprühen sie einen leicht morbiden Charme. Die Stimmung ist bestens.

Das Lautsprecher-Signal "Die Herren und Damen des Orchesters bitte auf die Bühne" ruft zur ersten Halbzeit in feierlicher Atmosphäre: Hinter uns, vor uns und neben uns das Publikum, das offenbar Genuss vom Feinsten erwartet und trotzdem nicht die Spur enttäuscht ist, als die Solo-Pianistin daneben greift und zwischenzeitlich sogar kurz aussetzt.

Zur Pause hatte ich das obligatorische Club-Bier erwartet, doch die Kantine ist fast leer. Vor einem abseits gelegenem Seitengang steht das gesamte Orchester Schlange, in voller Konzertmontur und in stoischer Ruhe. Denn in der Pause, so sagt man mir, könne man sich den Lohn abholen. Ich geselle mich also zu den Wartenden und trete schließlich in ein kleines Büro. Hier sitzt der Schatzmeister des Orchesters. Er strahlt Würde aus, wie er da thront und jeden namentlich begrüßen kann. Für die einzelnen Musiker hat er jeweils einen kleinen, beschrifteten Briefumschlag vorbereitet. Insgesamt sind es also etwa 70 Couverts, die sich in säuberlicher Anordnung vor ihm ausbreiten. Der Schatzmeister hat natürlich auch einen Umschlag für mich. Darauf steht mein Name und anbei bekomme ich einen Zettel, auf dem ich für das nächste zu bestreitende Konzert bestellt werde. Der Schatzmeister zählt mir den Lohn vor, wie in einer Bank. In dem Brief befinden sich ganz genau 61 Euro. Ein Fünfziger, ein Zehner und ein Einer, glattes, neues Geld. In Anbetracht der Tatsache, dass die Philharmonie restlos ausverkauft ist, eine bescheidene Gage, die ich trotzdem, insbesondere im Rahmen dieses Anstehrituals, dankbar annehme.

Viel Pausen-Zeit bleibt danach nicht mehr bis zur zweiten Hälfte. Ich habe allerdings noch die Gelegenheit, das Programmheft des Abends zu studieren. Dem ist zu entnehmen, dass das Orchester als festes Ensemble sehr regelmäßig Auftritte hat, mehrmals im Monat, und dass die Konzerte immer ausverkauft und deshalb besonders feierlich sind. Donnerwetter, das scheint zu stimmen.

Unter sehr freundlichem Applaus betreten wir die Bühne zur zweiten Halbzeit. Meiner Pultnachbarin fällt einmal der Bogen aus der Hand und scheppert zu Boden - es gibt Schlimmeres. Und nachdem wir mit Mühe und Not durchs Programm gekommen sind, die Pauken abschließend wirbeln, die Posaunen, Trompeten und Hörner tröten, was das Zeug hält, und wir Streicher zumindest, wie sich das gehört, die Bögen temperamentvoll von der Seite reißen, ergibt sich die eingangs geschilderte Situation. Die Leute beklatschen ihren Kultureifer, wir gratulieren uns gegenseitig zu dem gelungenen Konzert. Dann packe ich meine Sachen ein, schultere das Cello und bin so schnell im Freien, dass ich - um eine musikalische Erfahrung reicher - noch zusammen mit unserem Publikum zur Bahn trotten kann. Am nächsten Morgen sage ich für das nächste Konzert zu, um diese effiziente Kulturorganisation ein weiteres Mal zu unterstützen. Auf dass ihre Schatzkammer bald aus allen Nähten platze!n


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