Zum Schweigen von 500 getöteten Flüchtlingen

Asylpolitik Wenn der Friedensnobelpreis der Europäischen Union im Mittelmeer ertränkt wird und es niemanden interessiert. Ein Blick aus Österreich

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Ein Trauerkranz erinnert vor Lampedusa an die unzähligen Todesopfer
Ein Trauerkranz erinnert vor Lampedusa an die unzähligen Todesopfer

Foto: Alberto Pizzoli/ AFP/ Getty Images

„Nur noch ein Tag und unser Wunsch geht in Erfüllung. Wir kommen in Europa an“. Diese Worte richtete der Palästinenser Shukri Al-Asouli am 6. September 2014 an seine Familie bevor sie unterschiedliche Boote an der ägyptischen Hafenstadt Damietta zugeteilt bekommen. In den Booten befinden sich Flüchtlinge aus Palästina, dem Sudan und Syrien. Wenige Stunden später ertrinken 500 Menschen im Mittelmeer. Shukri Al-Asouli ist einer von nur elf Überlebenden. Seine beiden Kinder und seine Frau sind auf ihrer Flucht in eine Zukunft vermeintlicher Sicherheit ums Leben gekommen. Mitte August haben sie den Gaza-Streifen Richtung Ägypten verlassen. Wegen Granatsplitter im Bein wollte er nach Schweden um sich dort medizinisch behandeln zu lassen.

2.500.000 km². Das Europäische Mittelmeer liegt zwischen Europa, Afrika und Asien, mit nur einer schmalen Verbindung zum Atlantik über die Straße von Gibraltar. Beliebtes Urlaubsziel im wohlverdienten Sommerurlaub für die einen – wahlweise Ballermann auf Malle, Familienurlaub an den Stränden der Ägäischen Inseln, Vulkantourismus auf Sizilien oder Sonnenbaden am Strand Zyperns. Für andere wiederum verkörpert das Mittelmeer die erhofft letzte große Hürde nach bereits langen, zurückgelegten Fluchtwegen. Fluchtwege, bei denen das eigene Leben riskiert wird, um dem Ort, der sich Heimat nennt, zu entkommen.

Ich versuche, das, was Shukri Al-Asouli erzählt für mich durchzudenken. Das würde ich mir auch von politischen Entscheidungsträger_innen erwarten, die in altrömischer Manier mit Auf und Ab des Daumens – oder zeitgemäß mit Heben und Nichtheben des Arms – bei der nächsten Asylgesetz-Verschärfung über das Weiterleben von Menschen entscheiden.

Ich versuche, mir zu überlegen wie es sein muss, in ein Boot zu steigen, an der Küste Ägyptens. Mich von meiner Familie zu trennen, die in ein anderes Boot steigt. Mir mit hunderten anderen Menschen ein völlig überfülltes Boot zu teilen. Vor mir ein Meer ohne sichtbarem Ziel am Horizont. Was hinter dem Horizont auf mich wartet, kann ich nicht erahnen. Und ob ich an diesem mir unbekannten, aber vermutet sicheren Ort überhaupt ankommen werde – überzeugt bin ich nicht zur Gänze wenn ich mich in dem kleinen Boot umsehe. Ich gehe das Risiko ein. Eine Wahl habe ich nicht, denn eines scheint ganz klar: Das, was hinter mir liegt, das ist schlimmer als das, was vor mir liegt. Egal was es nämlich ist, das vor mir liegt, nichts kann so schlimm sein, wie der Ort, von dem ich flüchte. Dort, wo ich ankomme, ist kein Krieg. Dieser Kontinent hat einen Friedensnobelpreis bekommen. Ich werde in Sicherheit sein.

Genug mit einem Gedankenspiel, das meiner Lebensrealität so fern ist, dass es anmaßend ist. Ich habe nicht die geringste Vorstellung davon, welche Gedanken sich durch die Köpfe von flüchtenden Menschen kurz vor dem Betreten kleiner Boote hämmern. Niemand von uns, in Österreich geborenen Menschen meiner Generation hat sie.

„Aus Fehlern lernen“. Lampedusa. Vor fast genau einem Jahr ging vor Lampedusa ein Boot unter, in dem sich Flüchtlinge befanden. 366 Menschen starben. Durch Europa ging ein Aufschrei der Empörung. Politiker_innen, fast gleich welcher Couleur, fanden ganz plötzlich ihre gut getarnte „solidarische“ Grundhaltung, ihre „Nächstenliebe“, ihren „Humanismus“. Die Empörungswelle wurde mit unterschiedlichen Begriffen verziert. Dahinter steckte aber, messen wir diese Entrüstung an Taten, beim Großteil nur Heuchelei im Austausch für ein paar Zeilen Presseberichterstattung in den Medien. „Aus Fehlern müsste gelernt werden“, gaben sich EU-Politiker_innen vor Journalist_innen nach Lampedusa vermeintlich selbstkritisch. Große Worte – nichts dahinter.

Taskforce Mittelmeer. EU Innenkommissarin Malmström rief die „Taskforce Mittelmeer“ als Reaktion auf die Ereignisse vor Lampedusa ein. Wer beginnt, Lösungen für den Umgang mit Asylsuchenden so zu betiteln, hatte von Anfang an wenig Vertrauen von mir. Der Name erinnerte mich an Summer Splash-Abenteuerreisen, all-inclusive Saufen nach der Matura. Aber Arbeitsgruppen sollten natürlich an ihren Taten gemessen werden. Die waren wie folgt:

Die Ergebnisse der Taskforce setzten nicht darauf, Menschen auf der Flucht ein sicheres Ankommen in Europa zu ermöglichen. Selbstverständlich wurde wiederum auf Grenzüberwachung und Abschottung abgezielt. Das Militär soll beteiligt werden, Europa muss gegen Flüchtlinge aufgerüstet werden. Die bereits vorhandene Kooperation mit nordafrikanischen Staaten soll vertieft werden, gemeinsame Grenzpatrouillen gegen Flüchtlinge eingesetzt werden. Die Festung Europa expandiert also bis an die Grenzen Afrikas.Eurosur“ wurde das neue Überwachungssystem benannt, dass am 10. Oktober 2013 vom Europaparlament beschlossen wurde. Drohnen, Offshore-Sensoren und Satellitensuchsysteme überwachen die illegalisierte Flucht in die EU Mitgliedsländer. Die nötige Seenotrettung – die tatsächlich Menschenleben retten könnte – wird nicht einmal erwähnt. Menschen wie Shukri Al-Asouli, mit Granatsplitter im Bein, sollen auf keinen Fall unseren Kontinent betreten dürfen, sagt also die Friedensnobelpreisträgerin Europäische Union.

Wenig überraschend veränderte diese Task Force also nichts daran, dass im Mittelmeer Menschen auf der Flucht ums Leben kommen. Pro Asyl geht davon aus, dass allein im Jahr 2014 mindestens 3000 Menschen im Mittelmeer gestorben sind. Nach Angaben von Amnesty International hat die EU zwischen 2007 und 2013 fast zwei Milliarden Euro für den Bau von Grenzzäunen, Überwachungszäunen und für Frontex ausgegeben. Dem gegenüber wurden lächerliche 700 Millionen Euro für die Verbesserung der Situation von Asylsuchenden ausgegeben.

Millionen Menschen in Kriegsregionen. Seit Monaten vergeht kein Tag, an dem die Nachrichten-Meldungsübersicht nicht mit Kriegsberichterstattung beginnt. Ukraine, Irak, Syrien, Nordmali, Sudan, Gaza, Nigeria, Libyen, Somalia, um einige zu nennen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals mit so vielen Kriegen in den Medien konfrontiert gewesen zu sein. Was Krieg bedeuten kann weiß ich nicht. Jene, die in den Parlamenten Politik machen zum überwiegenden Teil genauso wenig. Einige von ihnen haben die Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg wohl noch miterlebt. Während einer kriegerischen Auseinandersetzung aufzuwachsen musste niemand von ihnen, von uns. Im Juli dieses Jahres wurde im Profil ein Artikel veröffentlicht der die Kriegsführung al-Assads in Syrien vermuten ließ (http://tinyurl.com/pr8gqnt). Der Artikel blieb mir besonders in Erinnerung, weil er mit einigen Informationen klar machte, was Kriegsführung im Kapitalismus des Jahres 2014 konkret bedeuten kann. Mit Militärvokabular war ich noch nie sonderlich bewandert, das geb’ ich zu – der Profil-Artikel machte mich schlauer: dort hieß es, Bashar al-Assad bombadiert die syrische Zivilbevölkerung mit Fassbomben. Fassbomben sind selbstgebastelte Ölfässer, die mit Sprengstoff und Eisenteilen gefüllt sind. Wenn die Luftwaffe noch brutaler wird, packen sie außerdem Chlorgas hinzu. Kostenfaktor: 150 US-Dollar.

150 US-Dollar kostet eine Fassbombe.

Für 150 US-Dollar können also im Jahr 2014 „kosteneffizient“ Menschen ermordet werden. Ich dachte mir (naiv), dass nur Unwissen dazu führen könnte, dass Kurz & Fischer nicht schon längst Flugzeuge schicken, um Menschen gezielt sichere Fluchtwege nach Österreich zu bieten. Haben sie nicht gemacht. Überraschung. Die Situation eskalierte und mit jedem Tag schien es, als könnte es nicht schlimmer werden.

Seither hat sich viel verändert. Und es wurde tatsächlich, zum damaligen Zeitpunkt für mich kaum denkbar, noch viel schlimmer. In Syrien spielen nun IS (Islamischer Staat) und Bashar al-Assad miteinander Arschloch-Bingo. Als ich im Juli 2014 den genannten Profil-Artikel las, war diese großräumige Machtübernahme von IS in der Region – auf jeden Fall für mich – noch nicht absehbar.

Und mit jedem Tag, der seit Monaten vergeht, mit jedem Tag, an dem aufs Neue mit unvorstellbarer Gewalt rücksichtslos auf die Zivilgesellschaft losgegangen und auf ihrem Rücken blutige Machtpolitik gemacht wird – desto mehr Wissen haben wir durch Berichterstattung auch darüber, was in Syrien passiert.

Europa weiß bestens darüber Bescheid, mit welcher Brutalität Menschen verfolgt werden, wir wissen über die Situation und Verfolgung der Kurd_innen und Jesid_innen. Und wer mitdenkt, kann von diesen einzelnen, medial gut vertretenen Gruppen auch abstrahieren auf all jene, die nicht von der medial beschriebenen, dezidierten Gruppenverfolgung bedroht sind – und dadurch auch kaum Erwähnung finden. Zivilbevölkerung. Menschen, die in Syrien leben und die Politik Assads, als auch die des IS ablehnen. Ich spreche also beispielsweise von Menschen aus den Gruppen der Alawit_innen oder Sunnit_innen, Drus_innen oder Ismailit_innen. All jene, die sich zwischen Zusehen beim Einrichten eines Kalifats wenn IS das nächste Dorf übernimmt entscheiden können – oder partikularen Widerstand, der, wenn nicht schon im Vorhinein gut organisiert, den sicheren Tod bedeuten wird. In Syrien herrscht Krieg. Freund_in – Feind_in – Schema in hochkomplexer Ausprägung. Wer nicht von IS getötet wird, weil er/sie nicht laut genug gejubelt hat beim Einmarsch und die Flucht über die Landesgrenze noch nicht geschafft hat, der/die ist ein paar Kilometer weiter vor dem Bombenhagel al-Assads nicht sicher.

Beschrieben wird hier Syrien. Flucht vor Krieg bedeutet aber – egal aus welchem der genannten Staaten – Flucht vor Gewalt, die die Chance auf Überleben unermüdlich angreift.

Von der Gleichgültigkeit eines Kontinents. Während Europa also jeden Tag mitbekommt, was in Syrien oder im Irak passiert aber keinen Finger rührt, die Zivilbevölkerung gezielt aus dieser Situation aus dem Land zu bringen, bekommen die gleichen Entscheidungsträger_innen vor Empörung in UN-Sitzungen kaum noch Luft: „man müsse doch und Barbarei und Anti-Terror Allianz und sowieso und überhaupt".

Im genau gleichen Zeitraum ist das „Flüchtlingsdrama“ passiert, bei dem 500 Menschen ums Leben kamen, darunter Shukri Al-Asoulis Familie. Niemand unterstützte diese Menschen auf ihrer Suche nach einem Weg, der sie überleben lassen sollte.

Wenn europäische Weltpolitik zur verlogenen Theaterbühne wird. Medialer Aufschrei? Denkste. Die 500 ermordeten Flüchtlinge reichten noch nicht einmal mehr, um Titelseiten zu füllen. Sie reichten nicht mal für einen Doppelseiter. Ein paar wenige Tageszeitungen diagnostizierten ein paar Tage später erneute „Dramen“ im Mittelmeer, die Berichterstattung impliziert damit, es ginge es um tragische Einzelfälle. Es wurde von der eigenen, europäischen Verantwortung versucht abzulenken, indem „Schlepper-Banden“ Schuld zugewiesen wurde. Martin Schulz richtete ein paar betroffene Sätze an die Europaparlamentarier_innen (http://tinyurl.com/p8llsg3). Dass er – genauso wie viele andere Europapolitiker_innen und Politiker_innen in den Mitgliedsstaaten – dafür verantwortlich sind, dass der Vorfall eben nicht tragischer Einzelfall, sondern politisch verantwortbares System sind, wird nirgends thematisiert. Leere Betroffenheitsbekundungen verändern rein gar nichts. Sie sind Image-Kosmetik.

Ehrliche rassistische Zustände auf der Insel der Seeligen. Tausende sterben auf der Flucht. Dennoch sind aktuell über 50 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht - in der Hoffnung auf ein würdevolles Leben. Jene, die es traumatisiert, gedemütigt und entkräftet nach Europa schaffen, erwarten weitere Torturen. Etwa übervolle Auffanglager in Italien, als direkte Folge mangelnder Unterstützung der europäischen Nationalstaaten in der Flüchtlingsversorgung. Die Länder an den Außengrenzen werden allein gelassen, die Leidtragen sind die Flüchtlinge selbst. Auch Österreich drückt sich vor der Verantwortung.

Wenn Mikl-Leitner, die Innenministerin, von einem „Flüchtlings-Tsunami“ spricht, wird wenigstens eines klar: In einem Land, in dem offener Rassismus fast schon zum guten politischen Ton gehört, muss nicht mal in Kriegszeiten wie diesen Betroffenheit vorgeheuchelt werden. Die ÖVP zeigt wieder einmal ihr wahres Gesicht, das mit christlicher Nächstenliebe noch nie etwas zu tun hatte. Ebenso wenig legt es die SPÖ darauf an, zu beweisen, dass sie mit dem Grundpfeiler der Arbeiter_innenbewegung - der Solidarität – etwas am Hut hat. Seit Wochen geht ein unwürdiges Ping Pong-Spiel zwischen Bund, Ländern und Gemeinden hin und her, in dem jede Ebene das Ziel verfolgt, sich aus der Verantwortung zu stehlen, Unterkünfte bereit zu stellen.

Ich fordere keine besseren Lösungen im Umgang mit Asylsuchenden. Sondern eine radikale Neuausrichtung. Es ginge also nicht nur darum, Flüchtlinge auf ihren Fluchtwegen zu unterstützen, sondern ihnen in Europa zudem ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. An diesem Maßstab gemessen, ist die europäische und österreichische Flüchtlingspolitik bisher insgesamt gescheitert. Die beengten Unterkünfte und die fehlende Privatsphäre in Massenunterbringungen in Österreich und vielen weiteren Ländern führen zu schwierigen Lebenssituationen der Asylbewerber_innen, die aufgrund ihrer Lebensgeschichte nicht selten mit großen psychischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben.

Ganz bestimmt ist auch die europapolitische Lösung nicht, reflexartig auf Erhöhung der Gelder für Entwicklungszusammenarbeit zu pochen, wie ich sie dieser Tage oft lese. Wenn ein System so im Arsch ist sollte kein einziger Tag mit defensiven Forderungen wie dieser verschwendet werden. Österreich verfehlt schon lange das in den Siebzigern verabschiedete Ziel, 0,7 % des BIP als Leistungen für Entwicklungszusammenarbeit bereit zu stellen. Denn die Länder, von denen diese 0,7% verlangt werden – inklusive Österreich - sind genau jene, die die Spielregeln des Kapitalismus so für sich nutzen, dass sich ihre Gewinner_innenrolle festigt. Die globalen Ungleichheiten, die wir täglich sehen, fallen nicht vom Himmel. 100.000 Menschen sterben tagtäglich an den Folgen von Unterernährung – das sind pro Sekunde mehr als eine_r. Und das sind keine Neuigkeiten. Seit Jahrzehnten wissen wir darüber Bescheid. Als „entwickeltes” Europa beuten wir ganze Weltregionen zuerst aus, um im Anschluss daran, besonders in Österreich, gegen all jene Hetze zu betreiben, die wegen genau dieser, unserer, Praktiken flüchten müssen.

Die Geschichte von Al-Asouli ist kein Einzelfall, sondern tagtägliche Realität an den EU-Außengrenzen. Um diesen Massenmord zukünftig zu verhindern, braucht es mehr als Lippenbekenntnisse. Und Politik, die bei Minimalforderungen nicht endet.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

AnnaBr

Internationale Entwicklung und Urbanismus. Subversion, Sandkorn und Stadthopping.

AnnaBr

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