Sie musste das Buch ganz schnell durchlesen. „Das ist so bemüht fürs Bildungsbürgertum geschrieben“, sagt Alexandra. „Mich hat das total genervt.“ An diesem Dienstagabend sitzt sie mit fünf anderen um den alten Holztisch in einem Wohnzimmer in Berlin-Weißensee. Es ist ein vertrauter, privater Kreis, die Kulturwissenschaftlerin und andere Teilnehmer wollen daher nicht ihren vollen Namen in der Zeitung lesen.
Gerade haben sie, wie jedes Mal, gemeinsam zu Abend gegessen, es gab Kürbissuppe und Smalltalk: Was machen die Kinder, der Job? Vor allem aber soll es um Literatur gehen. Sie treffen sich seit vier Jahren, alle vier bis sechs Wochen, immer bei jemand anderem zu Hause. Dazwischen lesen alle ein Buch, auf das sie sich geeinigt haben, meist aus der zeitgenössischen deutschen Literatur. Beim vorigen Treffen hat es eine Kampfabstimmung zwischen Sibylle Lewitscharoffs Blumenberg und Sturz der Tage in die Nacht von Antje Ravic-Strubel gegeben – gewonnen hat Lewitscharoff. So liegen nun sechs Exemplare mit dem Löwen-Cover auf dem Tisch, mit Eselsohren und beschriebenen Notizzetteln, auf denen Seitenzahlen und Zitate stehen.
„Die Lesetreffen machen einen als Autor auch demütig – und gelassener“, sagt Jan Böttcher, Kookbooks-Verleger und selbst Schriftsteller, der den Kreis mitbegründet hat. Er ist wie die anderen Mitglieder zwischen 30 und 40, die meisten sind auch beruflich literaturaffin, es gibt mehrere Lektoren unter ihnen. Sie wollen wild streiten, darüber, ob die Figuren glaubhaft sind, welche Kapitel sie gestört und was sie nicht verstanden haben, wie ihnen der Ton und die Sprache gefällt. Manchmal rufen sie dann alle durcheinander.
Einer sollte moderieren
Durcheinanderrufen, das gefällt Thomas Böhm nicht so richtig: Der ehemalige Leiter des Kölner Literaturhauses hat im Sommer Das Lesekreis-Buch veröffentlicht, eine Anleitung für alle, die schon in einem Lesekreis sind – oder einen gründen wollen. Es ist ein detailliertes, auf Böhms Erfahrungen basierendes Plädoyer für diese Kulturform, die gerade eine Renaissance erlebt. Bislang kannte man sie eher von der Generation der heute über 60-Jährigen. In seinem idealen Lesekreis gibt es auch – anders als in Böttchers Runde – einen Leiter, einen, der etwa bei Zwischenrufen moderiert. Böhm zufolge sei es auch wünschenswert, dass die Gruppen heterogener seien, mit Cellisten, Weinhändlern, Ärzten, Ingenieuren.
Viele Kreise widmen sich bestimmten Themengebieten, manche lesen nur Nietzsche, Kriminalgeschichten oder Lyrik, die zehn Berliner vor allem deutsche Gegenwartsliteratur. „Man müsste vielleicht mal einen Lesekreis gründen, der sich über die Intertexte von Roman zu Roman hangelt“, schlägt Jan Böttcher vor, als seine Runde in Blumenberg Verweise auf Texte von Samuel Beckett, Albert Cohen und Ilse Aichinger feststellt.
Solche Entdeckungen sprechen für die kollektive Zweitlektüre des Romans – allein auf dem Sofa sitzend hätte man sie wohl übersehen. Man lese bewusster, wenn man wisse, dass man sich austauschen werde, das haben die meisten im Lesekreis so erlebt; bei Büchern, die sie zuerst langweilig fanden, entdeckten sie in der Runde neue Aspekte. Sie fragen einander: Was hat euch überrascht, was nehmt ihr von dem Text mit?
Das Prinzip funktioniert aber nicht nur am Esstisch: Die Empfehlungs-Kultur im Internet schafft auch online eine neue Art des Lesens. Angefangen hat es mit den Kommentaren bei Amazon, über den „Gefällt mir“-Button von Facebook wurde das Lesen und Bewerten im Netz bedeutsamer. Mittlerweile gibt es einen eigenen Begriff dafür: Social Reading beschreibt die Lesekreiserfahrung der digitalen Ära, die über Soziale Netzwerke entsteht, in denen sich Nutzer austauschen, die gerne lesen. Die Portale heißen Copia oder Lovelybooks, Booklamp oder Reading Life.
Die authentische Stimme
Sie zeigen, wer gerade das gleiche Buch liest, damit man gemeinsam die Lektüre kommentieren kann. Bei E-Books erlauben sie es, schon beim Lesen die Lieblingszitate mit anderen zu teilen und manche der App-Versionen spucken Statistiken übers Leseverhalten aus.
Jan Böttcher ist als Autor in beiden Welten unterwegs: „Meinen neuen Roman hat der Verlag auch gerade an Nutzer bei Lovelybooks verteilt“, erzählt er. „Zuerst haben sie sich nur über die Songliste zum Roman ausgetauscht, die ich auf meiner Homepage veröffentlicht habe“, sagt er und klingt etwas skeptisch. Die Online-Buchanalyse unterscheide sich für ihn allein schon wegen der authentischen Stimme der Leser von einer klassischen Zeitungsrezension. Man kann dem Autor sogar Fragen schicken.
Roland, der seit anderthalb Jahren im Berliner Lesekreis mitliest, kann ihren Spielarten im Internet weniger abgewinnen: „Online ist das kein Gespräch“, findet er, „das hat nicht die Dynamik unserer Debatten.“ Die Verlagerung der Lesekreise ins Netz geht jedoch weiter. Auch Autorin Joanne K. Rowling baut mit Pottermore eine Social-Reading-Seite für ihr Harry Potter-Epos auf, mit Geschichten aus ihrer Schreibwerkstatt, Lese-Forum und Mitschreib-Gelegenheit. Eine innovative Kollektivlektüre im Netz war in Deutschland das große Wett-Lesen und Wett-Interpretieren von David Foster Wallaces Unendlicher Spaß: Zum Erscheinen des Buchs in der deutschen Übersetzung dokumentierten 100 Tage lang mehr als 30 Autoren ihre Lektüreerfahrung.
Beim Lesekreis in Berlin steht das Buch für Dezember bereits fest: Es ist Judith Schalanskys Lehrerinnenroman Der Hals der Giraffe. Die Wahl war einstimmig.
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