Auf der Suche nach den Verdammten dieser Erde

Nezahualcoyotl Der räudige, heroische Rand im fernen, nahen Osten von Mexiko-Stadt

An der östlichen Peripherie von Mexiko-Stadt, wo früher traumhafte Lagunen lagen, gab es nach der Trockenlegung unwirtliche Einöde. Mitte des 20. Jahrhunderts kamen die ersten Migranten. Das Niemandsland wurde zum Gelobten Land: erst für Siedler, dann für revolutionäre Gruppen, später für "authentische" Gegenkultur.

Ein riesiges rotes Metallungetüm ragt aus der verkehrsumspülten Mittelinsel, weithin unübersehbar. Das muss er doch sein, der Taxifahrer ist sich nicht sicher, die geometrischen Formen scheinen keinen Sinn zu ergeben. Dann fügen sich die Ecken und Kanten doch zu einem stilisierten Kojotenkopf, der sein gigantisches Maul aufreißt.

"Frevel", schimpft Jorge Vega, der die Besucherin zu diesem Monument bestellt hatte. Im Schatten der rotlackierten Metallmassen geht die Bronzestatue des Namenspatrons der Gemeinde, des altmexikanischen Königs und Dichters Nezahualcoyotl, nahezu unter. "Der steht für unsere wahre Identität, nicht ein Kojote", sagt Vega, ein 50-jähriger Necense, den das Leben hier angespült hat. Auch der Schriftsteller Primo Mendoza, ein kleiner drahtiger Mann mit buschigem Schnurbart, ist nicht begeistert von dem "pharaonischen" Bauwerk. "Das versteht die neue politische Klasse unter Kultur", meint er verächtlich mit sanfter, heiserer Stimme. Man sitzt zusammen bei Suppe und Endloskaffee in einem der immergleichen Schnellrestaurants mit Blick auf die breite Straße, Mariachis im Stand by und den Mega-Kojoten. Der soll kurze Zeit später, bei den Feiern zur offiziellen Stadtgründung vor 45 Jahren, eingeweiht werden. Stolz und Identität verkörpere das Tier, wird es trotz aller Debatten in den Festansprachen heißen, als Wahrzeichen für diese "Stadt der Hoffnung und des Fortschritts".

Lichtjahre vom Centro Histórico

Rückblende, ein erster Besuch Anfang der neunziger Jahre. Ein gleichförmiger, grauer Häuserteppich rollt sich vor den Augen aus, ohne Grün, ohne Farben. Brachland, trübe Glühbirnen in der Abenddämmerung, im Staub spielende Kinder. Hier eine schmuddelige Arena für Freistilringer, dort ein paar Huren am Straßenrand. Das Staunen über die vielen Hunde. Kläffende Köter, die im Abfall wühlen. Von Überschwemmungen ist die Rede, von Gewalt und Zärtlichkeit ebenso, von einer überall lauernden Wut. Ob sich damals das Stigma der räudigen, gewalttätigen Vorstadt vor den Blick geschoben hat?

15 Jahre später, im Mai 2008: Alle Straßen sind inzwischen asphaltiert, die Fassaden nicht mehr grau, sondern bunt, überall staken Werbeplakate in den Himmel, Schilder an Baustellen versprechen die "Restaurierung öffentlicher Plätze". Fraglos ist Ciudad Nezahualcoyotl, kurz Neza genannt, eine richtige Stadt. Doch Urbanität will sich nicht recht einstellen: Hier gibt es nichts Verwinkeltes, Straßen und Häuserreihen verlaufen entlang eines ebenmäßigen Schachbrettmusters - der Blick scheint bei jeder Straßenflucht in den Horizont einzutauchen. In der mentalen Topografie der meisten Hauptstadtbewohner dürfte Neza auf einem anderen Stern verzeichnet sein, Lichtjahre vom Centro Histórico entfernt.

Doch man ist viel schneller dort als gedacht, die Metro, dieses vielarmige Wunderwerk, das die Megastadt am Leben erhält, hat ihre Tentakel inzwischen weit nach Osten ausgestreckt. Die Züge fahren auf den wie von Zauberhand stets blankpolierten Bahnsteigen im Minutentakt. Trotzdem stehen die Menschen hier in dritter oder gar vierter Reihe an. Im Waggon bleibt nur die Hingabe an warme Leiber und eine Mixtur von Gerüchen, gebrannte Mandeln, Parfüm, eine Prise Schweiß. Dazu stoische Blicke, die sich niemals kreuzen. Grell geschminkte Mädchen mit müdem Blick, kichernde Teenies in Schuluniformen, junge Männer mit verwegenen Frisuren. Butterweich gleitet der Zug über die Gleise hinaus ins Freie. Die Metro wird zur Hochbahn, immer entlang der vierspurigen Stadtautobahn, parallel zur Avenida Texcoco. Dahinter beginnt die Schachbrettstadt.

Wie ein gestrandetes Schiff

Das wohl grundlegendste Missverständnis: Es sei pure Verzweiflung gewesen, von der sich die Allerärmsten hierher getrieben fühlten. Um sich in das Ödland des Ostens zu trauen, brauchte es Entschlossenheit, ein wenig Geld zum Bauen und eine "Pioniermentalität", sagt Primo Mendoza, der Schriftsteller. Zwar blieb man mit dem Distrito Federal, wie die Kapitale genannt wird, wie mit einer Nabelschnur verbunden - Arbeit gab es nur dort, in Büros, Fabriken oder als Hausangestellte -, doch lebte man in verschiedenen Galaxien. Neza wirkte anfangs wie "eine Mondlandschaft mit Kratern, in der man bei jedem Schritt in dem feuchten Boden einsank", schrieb der Literat Filadelfo Sandobal.

Von Anbeginn lag die düstere Legende eines von Outlaws und Drogenhändlern gegründeten Mega-Slums über allem. Dabei habe man früher im Morgengrauen jede Straße überqueren können, empört sich Benjamin Garcia López. Zwölf Jahre war er alt, als der Vater, ein Bauer aus Michoacan, sich auf einem Stückchen Land hier niederließ. "Alles rechtmäßig", betont der Mann mit dem munteren Lachen. Damals, vor fast 50 Jahren, sei hier noch weites Land gewesen, die Luft durchschnitten vom Spinnennetz illegaler Stromkabel. Ganze Familien wohnten in höchstens zwei Kammern. Fotos zeigen schlammige Erde, ein paar Plastikeimer, unverputzte Wände. Heute steht am gleichen Platz ein leuchtend orange getünchtes Haus, zwei Stockwerke sind es bislang. Aus dem Wohnzimmer führt eine rohe Zementtreppe nach oben, vom Treppenaufgang gehen diverse Schlaf- und Kinderzimmer ab. Der dritte Stock liegt noch unter freiem Himmel. Wenn wieder ein bisschen Geld zusammen ist, wird die nächste Wand hochgezogen.

Staatliche Baukredite? Benjamin Garcia López lächelt die Fragerin nachsichtig an. Noch kann er auf die Dächer seiner Nachbarn hinabschauen, auf Waschtröge und Wäscheleinen, bis weit in den dunstigen Horizont. Es gehe schließlich um die Kinder, sechs seien in Neza großgeworden, die sollten "es einmal besser haben". Benjamin sagt das ohne Ironie, aber auch ohne Illusion. Nein, es fehle einem an nichts in Neza, sagt auch seine Frau Maria Yolanda. Es gibt Kinos, Einkaufszentren, einen Volkspark, seit einiger Zeit sogar eine eigene Universität, die Tecnologico de Nezahualcoyotl.

Alt ist in Neza nichts. Es gibt keine Schichten, die sich übereinander legen, keinerlei Patina. Ein Relikt aus frühen Zeiten sind nur die Pferdewagen, die ab und an über den Asphalt klackern, mit großen Müllbeuteln auf der Ladefläche. 800 davon sollen noch unterwegs sein, keiner achtet an diesem brütend heißen Samstagmittag darauf. Die Straßen sind gesäumt von kleinteiliger Geschäftigkeit: Automechaniker und Tacobuden, Tanz-Studios, jede Menge Apotheken. Auf den Mittelstreifen wächst ein wenig zerzaustes Gras, sogar die Jacarandas, die altlila blühenden Blumen, die zu dieser Jahreszeit die Bürgersteige des Molochs zum Leuchten bringen, lassen die Köpfe hängen. Dafür gibt es seit Neuestem Kunst im öffentlichen Raum, fünf berühmte Bildhauer haben je ein Werk für den "Skulpturenboulevard" gestiftet. Alle 50 Meter steht nun eine abstrakte Form verloren zwischen dem verkümmerten Gewächs. Und doch: Eine Familie hat an einer Beton-Sitzecke zwischen zwei Figuren Platz genommen und picknickt. Ein älteres Paar in Shorts schlendert mit Plastiktüten vorbei, und bleibt vor einem Gebilde stehen.

Zurück zur U-Bahn, zwei Stationen weiter, auf der anderen Seite der Avenida Texcoco endet die Überschaubarkeit von Neza, die Straßen werden enger und unebener, es beginnt der Bezirk Iztapalapa. Der Weg führt durch die Hallen einer Billigmall, in der sich Möbel, Handys und Spielzeuge stapeln, es geht weiter über eine Straße mit einem Mittelstreifen aus Schutt, hinein in eine eingezäunte Siedlung mehrstöckiger Backsteinhäuser auf einer überwachsenen Schutthalde mit gigantischen Abflussrohren. Dazwischen öffnet sich der Eingang zu einem langgestreckten, buntgemalten Bau, der wie ein gestrandetes Schiff anmutet: die Kunst- und Handwerksfabrik, Fabrica de Artes y Oficios, kurz Faro (Leuchtturm) genannt. Im Innern eilen junge Menschen betriebsam an einem vorbei, überall wird geschweißt, geklebt, montiert, alte Druckmaschinen stehen neben einer Installation künstlerisch verfremdeter Schuhe - Pappmaché-Ungeheuer schweben an Seilen über den Köpfen.

Vor dem Leuchtturm war hier Wüste. Auch Iztapalapa war Lagunengebiet, dann kam die Dürre, es folgte die wilde Landnahme durch illegale Siedler. Die Regierung schickte Müll, Großmärkte und ein Gefängnis, die Brachen wurden nach und nach zugesiedelt, kulturell blieb die Gegend ein Niemandsland - es gab Niedrigstlöhne, Langeweile und lauernde Gewalt. "Nach vier Uhr ging keiner mehr vor die Tür", sagt der Faro-Leiter Agustin Estrada. Als sich 1997 eine linke Stadtverwaltung des maladen Distrikts annahm, war kein Geld vorhanden, um den kaputten Stadtrand sozial zu heilen, also setzte man auf den Treibstoff der - vermeintlich billigeren - Kultur. Anfang 2000 öffnete in einer Bauruine der Faro seine Pforten. Plötzlich gab es in der Wüste "kulturelle Dienste", man holte Theater, Lesungen, Konzerte und Kino her. Dazu kamen 40 Werkstätten - von Tanz bis Tischlerei, Yoga, Fotografie, Textildesign oder Schweißen. Ohne jede Zugangsbeschränkung, gratis.

Der Faro wurde zum Pilotprojekt, anfangs noch zum Befremden der Bewohner: "Warum nicht lieber ein Hospital?" war allenthalben zu hören. Heute gehen täglich über 2.000 Menschen ein und aus. "Es gibt immer noch Leute, die das hier für ein Gefängnis oder Umerziehungslager halten", erzählt Leticia Esquivel vom Faro-Staff. Sie kommt ins Schwärmen. Da gäbe es diese beiden jungen Männer aus der PR-Abteilung. Christian Jordan, ein kecker lockenköpfiger Mittzwanziger, und sein Freund Omar Cadena, ein scheuer, hochaufgeschossener Junge mit langem schwarzem Haar. Beide seien hier im wilden Osten aufgewachsen, einer dies- und der andere jenseits der Avenida Texcoco. Jahre später habe einer den anderen an den Leuchtturm geholt. "Das sind Jungen mit edlen Seelen, die sind im Feuer geboren und haben sich dabei nicht verbrannt."

Wir mögen die Gefahr

Omar Cadena schaut verlegen, als er das hört. Würde es nicht so kitschig klingen, könnte man sagen, er habe etwas Engelhaftes an sich: das feingeschnittene Gesicht, das wellige Haar, das über die Schultern fließt, die weiche, unerwartet tiefe Stimme. Großgeworden ist Omar in einem Viertel namens Voceadores. Dort hatten die Großeltern, die beide ihr Geld mit Zeitungsverkauf verdienten, vor einem halben Jahrhundert ein Stückchen Land gekauft, im berüchtigten Quartier der Kleinkriminellen und Drogendealer. Sein Freund Christian Jordan, ein paar Straßenzüge weiter zur Welt gekommen, durfte ihn damals nicht besuchen. "Mich ließen sie immer in Ruhe", sagt Omar, er habe sich mit den Jungen aus den Gangs nie eingelassen, höchstens Fußball gespielt auf der Straße. "Wenn ich aus einer solchen Gegend komme, hat das etwas mit Zugehörigkeit zu tun, nicht mit Identität."

Primo Mendoza, mehr als doppelt so alt wie Omar, war immer schon ein Pendler. Geboren ist er im Norden der Megastadt, nahe der Basilika. Schon als 17-Jähriger zog er nach Neza, in der kulturellen Gründerzeit, als alles explodierte, als Liedermacher, Literaten, Theaterleute und die Befreiungstheologen mit ihren Bibelgruppen kamen. "Die waren auf der Suche nach den Verdammten dieser Erde", erinnert sich Mendoza, der von sich sagt, er habe eine doppelte Nationalität und sei in Neza genauso zuhause wie im Innenstadtviertel Tepito, nördlich vom Centro Histórico. Die von ihm gegründete Kunstgruppe Los Olvidados (Die Vergessenen) bewegt sich zwischen beiden Polen städtischer Marginalität: im Zentrum das Quartier, in dem sich Händler und Polizei das Terrain streitig machen, und am Rand Nezahualcoyotl, eine Flächenstadt, die eher ein "Territorium" ist, eine Verlängerung der Kapitale.

Auch wenn dabei für Neza das urbane Stigma vom Drogenslum nicht totzukriegen ist, lässt sich das Kainsmal doch umwidmen. Als im Präsidentenwahlkampf 2006 der linke Kandidat López Obrador von seinem Widersacher Felipe Calderón als "Gefahr für Mexiko" verunglimpft wurde, tauchten auf seinen Meetings in der Innenstadt junge Mexikaner mit dunklen T-Shirts auf. "Wir sind aus Neza" war darauf zu lesen, "wir mögen die Gefahr".

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