Die Alten vom Prenzlauer Berg

Alltag Hinter den Kulissen des neu vermessenen Berliner Stadtteils verstummen langsam die Alten. Doch wenn sie könnten, würden sie ordentlich Krach schlagen

In den letzten Jahren passieren hier Dinge, die ihn verwirren. Zum Beispiel dieser Vertreter, den er neulich in seine Wohnung ließ. Das heißt, eigentlich hatte Paul nur die Tür geöffnet, da war der auch schon reingeschlüpft, hatte sich an den Stubentisch gesetzt und seine Unterlagen ausgebreitet.

» ›Aber ich hab doch Telefon‹, sag ich dem, ›und das reicht auch hin mit dem Geld.‹ So viel telefoniere ich doch gar nicht. Der junge Mann hat eine solche Hektik hier verbreitet, dass ich richtig aufgeregt war. Da hab ich dann, um den loszuwerden, so einen Vertrag unterschrieben.«

Die Hauskrankenpflege, die regelmäßig kommt, half Paul anschließend, den Vertrag wieder zu kündigen. Das war ein furchtbares Durcheinander für ihn. Aber Paul will sich nicht mit drei Schlössern und Kette verschanzen. Denn eigentlich freut er sich, wenn mal jemand bei ihm klingelt. Und er ein bisschen reden kann. So wie jetzt. Auch die Zeugen Jehovas lässt er gerne herein. Seit einer ganzen Weile kommen sie nun schon, immer am Freitagnachmittag. Da kann man sich drauf verlassen. »Ja«, lacht er, »ich mag die hübschen bunten Hefte, die sie mitbringen. Kostenlos.«

Paul steht am Fenster seiner Hinterhofwohnung in Berlin Prenzlauer Berg und schaut hinunter. »Das soll jetzt alles neu gemacht werden.« Paul findet das aufregend. »Stellen Sie sich vor, ganze Wände wollen die durchbrechen, damit die Wohnungen größer werden. Und eben alles verputzen, nicht wahr. Dann wird´s schön hell hier und teuer.« Paul beobachtet gerne. Vor zwei Wochen ist die junge Frau von gegenüber ausgezogen. »Da war in letzter Zeit regelmäßig ein Mann bei ihr, der blieb auch nachts. Die werden sich wohl jetzt was Gemeinsames gesucht haben.«

Der alte Mann ist einer der letzten Mieter im Haus. Bald wird hier eine Baustelle sein. Und schon jetzt bleibt überflüssiger Hausrat der Ausgezogenen einfach im Hof und im Treppenflur stehen. »Ich komme mir manchmal vor wie in einer Rumpelkammer«, sagt Paul. Klein und ein wenig gebückt dreht er sich vom Fenster weg und bewegt sich behäbig zu seinem Sessel. Auf halbem Wege hält er einen Moment inne und stützt sich auf die Kommode. »Eile mit Weile.« Er kichert.

In eine altersgerechte Wohnung soll er ziehen, sagt seine Sozialbetreuerin. Dabei hofft Paul, dass er seinen Kiez nicht verlassen muss. Denn hier kennt er alle.

Paul gehört zu den Alteingesessenen des Prenzlauer Bergs, die noch als Typus vorkommen, wenn von reizvollen Kontrasten oder nostalgischen Akzenten des Ostberliner Stadtteils die Rede ist. Doch ihr Bezirk ist längst neu vermessen. Wenn die Alten nicht wegen der hohen Mieten in andere Bezirke zogen, sind sie zu einer stillen Gesellschaft hinter den Kulissen geworden. Am ehesten trifft man sie als Fälle der ambulanten Pflegedienste.

Die Pflegefirmen leisten zunehmend Akkordarbeit. Dass die soziale Abgeschiedenheit der Alten durch sie gelindert werden könnte, wäre zuviel erwartet. Die Chefin einer Berliner Hauskrankenpflege spricht mich an. Sie will Dokumente von ihren Patienten, zu denen ihr in der täglichen Hektik der Bezug entgleitet. Ich besuche die Leute mit einem Aufnahmegerät. Ich höre zu.

Lassen Se sich nich davon stören, junge Frau, det ick hier nebenbei meine Goldkrone trinke.« Es ist 11 Uhr vormittags. »Wissen Se, bei mir ist det umjekehrt. Manche können nichts mehr sagen, wenn se jetrunken haben. Und ick kann mich nicht konzentrieren, wenn ick janz nüchtern bin.«

Heinz sitzt in seinem Sessel, vor ihm der Tisch, auf dem alle nötigen Dinge in greifbarer Nähe angeordnet sind. Der Aschenbecher, die Tabaktüte und die Pfeife rechts, in der Mitte das Stullenbrett. Messer, Gabel und Löffel liegen parallel dazu. Butter und Brot sind ganz links. Ansonsten ein paar benutzte Gläser und eine Tasse mit kaltem Kaffee, der ist noch von gestern Nachmittag. An meinem Platz ist der Tisch verklebt. Heinz bemüht sich, die Stelle zu säubern, doch der Lappen ist voller Tabakkrümel vom letzten Gebrauch, die fallen jetzt heraus. Ich biete an, den Lappen in der Küche zu auszuwaschen. »Ja, ach det wäre schön. Mensch, ick bin so schlecht auf den Beinen.« Er nimmt einen Schluck Goldkrone aus dem halbgefüllten Saftglas und stellt es vorsichtig auf den Tisch zurück. Mit dem breiten Handrücken wischt er sich die Schweißperlen von der Stirn und reibt sie am Pullover ab. Er schaut mich an, holt Luft und fixiert dann einen Punkt auf der gemusterten Tapete.

Heinz ist Jahrgang 1932. Seine Erinnerungen an die Nazizeit und den Krieg in Berlin, die nun für zwei Stunden aus ihm herausbrechen, sind so unmittelbar, als wäre danach nichts Wesentliches mehr passiert. Sein massiger Körper bebt, er rudert mit den Armen. »Und der Göring, der dicke Göring, der hat sich hinjestellt und hat jesacht: ›Wenn ein feindliches Flugzeug die Reichshauptstadt überfliegt, dann will ich Meier heißen‹. Zuletzt hieß der bloß noch Meier. Denn dann sind die Alliierten durchjebrochen. Die ersten Bomben! Wum, wum. Da haben die Männer im Luftschutzkeller die Karten fallen lassen, die Frauen det Strickzeug. Wir saßen nachher stundenlang im Keller wie ne Maus in der Falle. Und draußen prasselt det und prasselt.« Ob er eine Zigarette von mir bekommen könne, die Pfeife ziehe nicht sehr gut und er sei jetzt sehr nervös. »Einmal hab ick och jesehn, wie ein Pilot aus nem abjeschossenen Flugzeug mit seinem Fallschirm an einem Wohnhaus hing. ›Da hängt so ne Sau!‹ haben die Leute jeschrien. Wenn die sowat jekriegt haben, Piloten, von denen sie vorher bombardiert wurden, die sollen se zertrampelt haben.«

Heinz trinkt und erzählt, weint zwischendurch, trinkt. Als ich mich von ihm verabschiede, sagt er, ich könne gern wiederkommen. Wir könnten auch mal einen Film zusammen ansehen, er möge besonders Pornofilme und er hätte auch ganz gute da.

Margarete hat vergessen, dass wir uns verabredet hatten. Aber man kann sie nicht verpassen. Sie und ihr Mann sind immer zu Hause. »Sie kommen gerade richtig, da können wir gemeinsam Kaffee trinken.« Jetzt, wo sie mich genau anschaut, kann sie sich noch sehr gut an mich erinnern. Damals, die gemeinsamen Zeiten im KJVD. So was, ich habe mich fast nicht verändert.

Margarete ist 87 Jahre alt. Ihre Mutter war eine Straßenhändlerin, mit dem Kind überfordert. So hat sie lange Zeit in Heimen verbracht. Am schönsten war es auf dem Immenhof, fünf Mal erzählt sie das. Das war im Alter zwischen 15 und 17 Jahren. Wieder nach Berlin zurückgekehrt, schlug sie sich mit Hilfsarbeiten als Plätterin oder im Fotolabor durch. Rückhalt fand sie im kommunistischen Jugendverband, KJVD.

»Da lernte ich auch unseren Ernst Thälmann kennen, war viel mit ihm zusammen. Der hat einmal zu mir gesagt: ›Grete, von wo hast du det alles schon so begriffen?‹ Da hab ich ihm geantwortet: ›Wenn du das Arbeiterviertelelend selbst durchgemacht hast, dann weißt du, von wo du det begriffen hast.‹ Aber der Ernst hat das selbst nicht kennen gelernt. Der hat´s zu Hause gut gehabt als Kind, was ich nicht hatte. Deswegen musste er sich die Dinge erst anlesen.«

Margarete schweigt. Sie nickt sehr langsam mit dem Kopf, wie um das Gesagte noch einmal zu bestätigen. Ihr Mann, neben ihr auf dem Sofa, hat die ganze Zeit über zugehört und spricht nun in die Pause hinein: »Ja, ja. So war das.« - »Das kannst Du doch gar nicht wissen. Dich habe ich doch erst viel später kennen gelernt. Du bist doch mein zweiter Mann.« - »Aber so erzählst Du´s immer.«

Als Kommunistin unter den Nazis verfolgt, kam Margarete wegen einer Flugblattaktion ins Barnimer Frauengefängnis. 1938 wurden ihre drei Kinder in ein Heim gebracht. An Details kann sich Margarete nicht mehr erinnern. »Der Grund war meine politische Einstellung und dass ich keine Arbeit hatte.«

Nach dem Krieg betreute sie die ersten Pioniergruppen in Berlin, fuhr mit den Acht-, Neunjährigen zu Ernteeinsätzen aufs Land. Später war sie Brigadierin beim Kanalbau Schöneweide.»Für mich gab´s schon immer nur eine Partei, und das war die Kommunistische. Die SED dann, die war zwar auch freundlich zu mir, aber es war doch immer eine Lücke zwischen uns. Bei der Vereinigung der Parteien, da wussten doch die Kommunisten nicht, wohin. Wir standen doch in der Bratenschale, auf Deutsch gesagt. Wir waren doch immer die Gehetzten und die Gejagten, wir hatten doch nirgendwo eine richtige Heimat. So haben wir uns dann in der SED geeinigt, Freundschaften geschlossen und Fahrten gemacht.«

Heute fühlt sich Margarete abgestellt. »Da wird immer gesagt, es wird sich um die alten Leute gekümmert. Aber zu uns ist noch keiner gekommen und hat gefragt, wollt ihr nicht mal einen Ausflug machen. Hier kommt zwar immer eine Pflege, die macht den Einkauf, die macht die Wäsche. Aber eigentlich sitzen wir nur immer hier, als wenn wir gar nicht da sind.« Sie zeigt auf ihren Mann: »Der hat Kohlen geschleppt, ein Leben lang. Und ich mit meiner politischen Laufbahn. Da ist es ein Schmerz, dass heute nicht mal Zeit für eine Spazierfahrt bleibt.«

In Berlin gibt es ca. 500 Sozialstationen. Ständig gründen sich neue private Pflegedienste, viele von ihnen gehen schnell wieder unter. Das Geschäft ist hart. 1995 wurde mit der Pflegeversicherung ein Modulsystem eingeführt, das die Vergütung für jeden einzelnen Handgriff tariflich festschreibt. Abgerechnet wird nicht mehr die pauschale Zeit mit dem Klienten, sondern die effektive Leistung. Hilfe beim Toilettengang: neun Minuten. Waschen, Windeln, Umkleiden eines bettlägerigen Patienten: 22 Minuten. Bereitstellung einer Mahlzeit, Essen lassen, inklusive Abwasch des benutzten Geschirrs: 15 Minuten. Spaziergänge ohne Grund - sind im Modulsystem nicht vorgesehen.

Die Nase läuft. Margarete sucht nach einem Taschentuch in ihrer Schürze. Vergeblich. Ihr Mann, der die gleiche Schürze in einer anderen Farbe trägt, leert den Inhalt seiner Tasche auf dem Tisch. Ein frisches Taschentuch ist dabei. Und eine Mundharmonika. »Spielen Sie?«, frage ich. Er nickt. Umständlich packt er den ausgebreiteten Kram wieder in seine Schürzentasche zurück. Bis nur noch die Mundharmonika auf dem Tisch liegt. »Na nun zeig doch, dass Du spielen kannst«, drängelt Margarete. Er setzt an, sucht einen Moment die Töne und beginnt dann mit einer Melodie. »Nein, nicht das.« Er beginnt ein anderes Lied und sie stimmt ein: »Liegt ´ne Wasserleiche im Landwehrkanal. Bring se mir mal her, aber drück se nicht zu sehr...«

Margarete begleitet mich zur Tür. »Ich kann keine langen Wege mehr laufen. Deswegen komme ich da nicht mehr hin, zu den Versammlungen, wo unsere Pflege beschlossen wird. Aber wenn ich noch hinkommen würde« - ein kämpferischer Funke tritt in ihre Augen - »ich würde da mal ordentlich Krach schlagen.«

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