Angst vor dem Übrigbleiben

China Moderne Metropolen ändern noch keine sozialen Mentalitäten. Die können so stark sein, dass Millionen Frauen daran verzweifeln
Ausgabe 40/2015
Partnerbörse in Shanghai: Chinesinnen unter Hochzeitsdruck
Partnerbörse in Shanghai: Chinesinnen unter Hochzeitsdruck

Foto: Peter Parks/AFP/Getty Images

Eigentlich liegt die Wüste Hunderte Kilometer weiter nördlich, aber an Tagen wie diesen könnte man meinen, sie sei gleich um die Ecke. Sie klopft mit voller Wucht an die Türen Pekings. Ein Sandsturm fegt über die Hauptstadt und legt eine dicke, braune Schicht auf Gebäude und Autos, auf Straßenschilder und Garküchen. Der Sand klebt in den Haaren, auf den Händen und schränkt die Sicht ein. Der Himmel färbt sich gelb-grau, das Atmen fällt schwer. Liu Min hat gleich Feierabend. Die Schutzmaske liegt schon bereit auf ihrem aufgeräumten Schreibtisch im elften Stock. Das Hochhaus liegt im Diplomaten- und-Business-Viertel, wo auch die Fünf-Sterne-Hotels residieren und teure Autos parken. Jetzt aber ist nichts vom Glanz des Distrikts zu sehen.

Liu kennt das, die 29-Jährige erlebt nicht den ersten Sandsturm. „Ich bin in Südchina geboren, aber mit 17 zum Studium nach Peking gezogen“, sagt sie und bedient sich an dem Teller mit Gebäck, das ihr Chef aus der Schweiz mitgebracht hat. Seit acht Jahren arbeitet sie in diesem Unternehmen und kümmert sich um die Kundenbetreuung. Sie schreibt Verträge und verhandelt Konditionen. Das alles erzählt sie in flüssigem Deutsch, nur manchmal hört man ihren chinesischen Akzent. Liu hat Germanistik studiert und im Ausland gelebt; sie spricht mehrere Sprachen. Und hübsch ist sie, mit schmalem Gesicht, Kurzhaarschnitt und einem dünnen Lidstrich. Sie verkörpert das Schönheitsideal vieler Chinesen, mit einem Aussehen, für das sich andere Frauen im Land unters Messer legen. Liu, so könnte man meinen, hat alles. Sie ist jung und erfolgreich in der Großstadt, unabhängig und international. Fragt man sie nach ihrem größten Wunsch für die kommenden fünf Jahre, lacht sie leise, fast ein wenig berührt. „Ich muss unbedingt heiraten.“ Steht das wirklich ganz oben? Sie nickt. Seit einem halben Jahr ist sie mit ihrem Freund zusammen. Der ist fünf Jahre älter und kommt aus Peking. „Eigentlich bin ich noch nicht sicher, ob ich ihn heiraten möchte.“ Vielleicht sei er nicht der richtige Mann, manchmal gebe es Konflikte.

Ihre Familie sei besorgt. „Ich glaube, wenn ich mich jetzt trenne, wird meine Mutter viele Dates für mich organisieren. Sie hat mir schon früher einige Bekannte vorgestellt.“ Telefonieren die beiden, geht es oft darum, ob die Tochter bald heiraten wird. „Das setzt mich unter Druck“, sagt Liu, die dank der jahrzehntelangen Ein-Kind-Politik ein Einzelkind ist und im Mittelpunkt einer Familie steht, die in einer Kleinstadt im Süden wohnt, wo den Menschen das steigende Hochzeitsalter in Chinas Großstädten irgendwie schleierhaft vorkommt. Wo man meint, nur eine Familie bürge für mehr Lebensqualität. Wo viele Freunde von Liu direkt nach der Schule heiraten und nicht studieren. Und wo Frauen, die mit 29 noch nicht geheiratet haben, kritisch-prüfenden Blicken der Nachbarn ausgeliefert sind.

„Wenn ich in diesem Jahr zum Frühlingsfest nach Hause komme, wird es furchtbar sein“, erzählt Liu. Das Frühlingsfest ist das chinesische Neujahrsfest mit einem großen Spektakel, mit Ferien und Familientreffen. „Jeder kommt zu uns und fragt meine Eltern, wann ich heirate.“ Für die sei es inzwischen schwierig, zu antworten. Sie hätten Angst, die Freunde könnten denken, mit Liu stimme etwas nicht. Manchmal überlegt sie schon, ob sie die Eltern zum Frühlingsfest nicht einfach nach Peking holen soll, anstatt nach Hause zu fahren.

Was sie im klimatisierten Büro mit den Schweizer Keksen über Hochzeitsdruck reflektiert, passt nicht zur modernen, gebildeten Liu. Trotzdem liegt die Last auf ihren zierlichen Schultern. Hinter diesem Druck steht mehr als die tuschelnde Nachbarin der Mutter. Es ist die Angst vor Stigmatisierung. Unverheiratete Frauen Ende 20 gelten als „übrig geblieben“. Die chinesischen Worte sheng nü bedeuten „übrig gebliebene Frauen bis 30“, die einen hohen Bildungsstand haben, in der Stadt wohnen und ledig sind. Liu sagt, sie kenne den Begriff, genau wie viele andere Frauen in ihrem Alter. Er begegne ihnen im Alltag, im Werbeclip für Singlebörsen, auf den Bildschirmen der U-Bahn oder im Internet.

Romantik im A4-Format

Übrig geblieben – für Liu und die anderen Frauen ein degradierendes Urteil. Die Angst, ihm ausgesetzt zu sein, zeigt Wirkung. Online-Partnervermittlungen und Dating-Apps boomen, für professionelle Matchmaking-Agenturen legen junge Leute viel Geld hin, Dating-Shows zählen zu den beliebtesten Fernsehsendungen. Wie groß die Verzweiflung der Eltern sein kann, zeigt sich jeden Sonntagnachmittag im Volkspark von Shanghai. Hier, mitten im Stadtzentrum, versammeln sich Eltern zum Hochzeitsmarkt. Gleich neben dem Metro-Ausstieg und umgeben von Wolkenkratzern liegen Hunderte von bunten Regenschirmen aufgespannt nebeneinander auf dem asphaltierten Fußweg. Ältere Männer und Frauen auf winzigen Hockern sitzen dahinter und warten, schauen verträumt in die Gegend oder diskutieren mit Passanten. Es wirkt im ersten Moment wie eine Kunstausstellung, doch die bunten Schirme dienen nur als Ablage. Es geht um die kleinen Zettel, die auf ihnen liegen. Sie sind eine Art Lebenslauf, mit den Eckdaten der Töchter und Söhne. Jahrgang: 1980. Geschlecht: männlich. Größe: 1,80 Meter. Apartment in der Stadt, ein Auto. Unten steht eine Telefonnummer. Romantik im A4-Format.

Es ist brechend voll, die Besucher schieben sich über den Hochzeitsmarkt. Von entspannter Parkatmosphäre kann keine Rede sein. Die Nachmittagssonne brennt im Nacken, auch unter schattenspendenden Bäumen spürt man das hektische Shanghai, den chaotischen Straßenverkehr um den rumorenden Park herum. Immer wieder bleiben Besucher vor einem Regenschirm stehen, studieren den Zettel, schreiben etwas auf ihren kleinen Notizblock. Eine von ihnen ist Zhou, eine Frau mittleren Alters im dunkelroten Kleid und mit Sonnenbrille. Sie sucht einen Mann für ihre 25-jährige Tochter. „Ich habe schon drei Kandidaten für sie, aber ich glaube nicht, dass sie ihr Typ sind.“ Ist sie nicht noch etwas jung zum Heiraten? „Je früher, desto besser“, sagt Zhou. Unweit von ihr sitzt eine Frau mit grauen Haaren hinter ihrem Schirm. Sie winkt ab, hält den Arm vor das Gesicht, sie möchte nicht erkannt werden. Viele Kinder wissen nicht, dass ihre Eltern hier sind. Wer die Kamera auspackt, erntet schon von weitem böse Blicke.

Deswegen gibt es auch Agenturen, die sich um die Suche kümmern, eine Ecke auf dem Hochzeitsmarkt ist für sie reserviert. Für umgerechnet 4,30 Euro lege er die Annoncen junger Chinesen für drei Monate aus, sagt ein Agenturmitarbeiter. Diese Versicherung erhält man keine drei Kilometer vom Bund entfernt, der noblen Uferpromenade mit Boutiquen, Banken und Shanghais glitzernder Skyline, mit teuren Mode- und Schmuckgeschäften, in denen westliche Marken dominieren.

2013 kamen auf 100 chinesische Männer mit akademischer Ausbildung 115 Frauen. Von den im Vorjahr knapp 58.000 chinesischen Teilnehmern am GMAT, dem weltweiten Zulassungstest für Programme an den international anerkannten Business Schools, waren 65 Prozent Frauen. Auch soll die reichste Selfmadefrau der Welt laut Forbes eine Chinesin sein. Sie heißt Zhou Qunfei und hat sich von einer Fabrikarbeiterin zur Chefin eines Apple-Zulieferers hochgearbeitet. Übrig geblieben?

Hochzeitsdruck ist für Chinesinnen kein neues Phänomen. Über Jahrhunderte hinweg gab es arrangierte Ehen. Doch warb die staatliche Propaganda von den frühen 50ern bis in die 70er Jahre hinein dafür, das Heiraten zu verschieben und stattdessen mit anzupacken, sagt Leta Hong Fincher, die ein Buch zum Thema der übrig gebliebenen Frauen und der fehlenden Geschlechterbalance in China veröffentlicht hat. Sie beschreibt die damalige Propaganda mit folgenden Worten: „Frauen sollten länger arbeiten, länger Teil der Erwerbsbevölkerung bleiben und somit helfen, die Wirtschaft des Landes auszubauen“. Mao Zedong verkündete einst: „Frauen tragen die Hälfte des Himmels.“

In den zurückliegenden 15 Jahren habe sich die Gesellschaft rasant verändert, mit einem steigenden Bildungsgrad würden immer mehr Frauen von sich aus beschließen, später zu heiraten, erklärt Leta Hong Fincher. 2012 lag das durchschnittliche Hochzeitsalter von Frauen in der Megacity Shanghai erstmals jenseits der 30.

Auch wenn immer später geheiratet werde – das Ja-Wort falle letzten Endes kaum nach dem 35. Lebensjahr, sagt Fincher. „Sozialwissenschaftliche Forschungen zeigen, dass der Anteil der Frauen in China, die mit 35 nicht verheiratet sind, sehr, sehr klein ist.“ In Hongkong, Taiwan, Japan, Südkorea oder Singapur würden sich Frauen noch viel später binden als auf dem chinesischen Festland. „Übrig gebliebene Frauen, das ist ein Mythos“, glaubt Fincher. Der Begriff sei eine von der chinesischen Regierung geschaffene Kategorie, um damit eine Kampagne zu lenken, mit der gebildete Frauen aus einem urbanen Milieu zum Heiraten gedrängt werden.

In der Falle

Frauen wie Liu beteuern, dass sie einen gewissen Druck spüren, wenn sie an Hochzeitsausstattern vorbeigehen und durch Zeitschriften blättern. Dieser Druck sei absolut echt, meint Fincher. „Aber die Mehrheit glaubt, er kommt nur von den Eltern. In Wirklichkeit hat dieser Druck seinen Ursprung in den Medien.“ Vielleicht habe der Begriff „sheng nü“ bereits vorher existiert, doch erst seit 2007 werde er offensiv verbreitet und führe zum Stigma der hochgebildeten, ledigen jungen Frau aus der Stadt. Den Begriff mitgeprägt hat der Frauenverband All-China Women’s Federation (ACWF), eine 1949 von der KP gegründete Massenorganisation. In einer Kolumne der New York Times von 2012 widmet sich Fincher den Überschriften von Artikeln, die auf der Internetseite der ACWF publiziert wurden. Da gab es Tipps wie „Acht einfache Schritte, um der Überbleibsel-Falle zu entkommen“. Oder man fragte: „Verdienen übrig gebliebene Frauen wirklich unsere Sympathie?“ Laut einem Bericht der offiziellen chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua hat das Ministerium für Bildung den Begriff sheng nü 2007 in sein offizielles Lexikon aufgenommen.

Anne Renzenbrink ist Redakteurin in Hamburg und hat als Journalistin längere Zeit in Fernost gearbeitet

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