Pflegestreik: Tarifvertrag Entlastung kommt – Gemeinsam kämpfen lohnt sich
Unikliniken in NRW Nach knapp drei Monaten Ausstand haben die Beschäftigten der Unikliniken ihr Ziel fast erreicht – einen „Tarifvertrag Entlastung“. Wie nur konnten sie so lange durchhalten? Ein Besuch in Köln, kurz vor der Einigung
Das Pflegepersonal in NRW hat 12 Wochen lang gestreikt und demonstriert – am Ende mit Erfolg
Foto: Michael Gstettenbauer/Imago Images
Elfte Streikwoche, Freitag, die Spätschicht fängt gleich an. Katja hat zwei Handys vor sich, eins klingelt. Sie geht dran, schreibt Zahlen auf einen Zettel. „Elf Patienten waren das? Bis gleich.“ Vor ihr stehen drei junge Pflegerinnen. „Einer da, zwei müssen rein“, sagt sie. Zwei der Frauen machen sich auf den Weg. Umdrehen, Streikzelt im Rücken, über die Straße, rein in die Uniklinik Köln. Begleitet von Applaus. Sie klatschen hier immer, wenn jemand zum Notdienst aufbricht. Kurz vor dem Spätdienst also ständig. Dann klärt die Streikleitung, gerade Katja aus der Geburtshilfe, per Handy mit den Stationen, wie viele Leute sie dort brauchen, um den Notbetrieb zu stemmen. Ihr Kollege ruft die Leute per Mikrofon zur Strei
reikleitung. „Die Kolleg:innen der Kinderintensiv, bitte.“ Katja schaut hoch. „Sechs Kinder, einer da, zwei müssen rein.“ Applaus.Im Lockdown haben die Leute von ihren Balkonen geklatscht, diesen Sommer klatschen in Köln die Pflegekräfte für sich selbst, fast drei Monate lang. So lang waren Beschäftigte aller sechs nordrhein-westfälischen Universitätskliniken im Ausstand. Sie forderten einen Entlastungstarifvertrag, wie ihn im vorigen Jahr Beschäftigte in Berlin erstreikten: Nicht um mehr Geld, sondern um Arbeitsbedingungen ging es, unter denen sie Kranke gut versorgen können und nicht ausbrennen. Feste Personaluntergrenzen für ihre Schichten und Freizeitausgleich, wenn sie trotzdem unterbesetzt arbeiten müssen. Kurz: kein „Weiter-so“.Anfang Mai waren die Beschäftigten in den Streik getreten, nachdem ein 100-tägiges Ultimatum der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi an die Landesregierung verstrichen war. Es folgten die Umsetzung einer Notdienstvereinbarung, viele Verhandlungstage – und viel Frust. Die Uniklinik Bonn wollte den Streik sogar gerichtlich stoppen lassen, unterlag aber in zwei Instanzen. Vor allem um die Belastungsausgleichspunkte rang die Verhandlungsgruppe der Streikenden mit den Arbeitgeber:innen, zuletzt bis in die Nächte hinein. In der Nacht zu Dienstag dann die Einigung. Für sieben Belastungspunkte soll es einen freien Tag geben – zumindest für einige der streikenden Berufsgruppen. Dazu kommen viele weitere Kompromisse.Alles hat sich verschärftAm Freitag zuvor: wieder Applaus. Im Gebäude schräg gegenüber sitzt der Klinikvorstand – er soll nicht vergessen, dass sie da sind. Dürfte er aber eh nicht. In der Öffentlichkeit ist der historisch lange Streik wenig präsent: Wer nicht gerade am Streikzelt vorbeikommt oder Patient:in ist, bekommt wenig mit. In der Klinik ist er dafür umso präsenter. Stationen sind dicht, Betten gesperrt, Operationen werden verschoben, Woche für Woche. Er müsse jetzt mehr Aufgaben übernehmen, erzählt ein Medizinstudent im Praktischen Jahr. Verwaltung, Verbände, Blutdruck messen. Vieles bleibe liegen. „Es hat sich alles verschärft.“ Aber fast alle, auch Ärzt:innen, hätten Verständnis. „Die Gründe für den Streik sind wichtig und richtig.“In Köln haben die Streikenden draußen gegenüber der Klinik ihr Lager, für viele fühlt es sich mittlerweile an wie ihr erweitertes Wohnzimmer. Zwischen schattenspendenden Bäumen haben sie Zelte und Bierbänke aufgestellt und Lichterketten aufgehängt. Es gibt eine Tischtennisplatte, einen Tauschen-und-Verschenken-Tisch für Kleidung, einen Catering-Wagen. Neben dem Tisch der Streikleitung schläft Zwergspitz Milo in seiner Transportbox, er gehört einer Aachenerin aus dem rund 200-köpfigen Delegiertenrat der Streikenden. Neben Katja liegt eine Tüte Sprotten, die mag Milo. „Geh weg mit den Dingern“, scherzt eine Kollegin.Am weißen Hauptzelt hängen Flipchart-Bögen: eine Liste der Mitglieder der Tarifkommission. Unterschriften derer, die kündigen wollen, wenn der Tarifvertrag Entlastung nicht kommt. Ein Diagramm der Kölner Streikstärke im Juni – Spitzenwert 546. An eine Stellwand hat jemand das Programm für die Woche gepinnt, an einer anderen hängen Zeitungsausschnitte, an einer dritten Komplimente an Kolleg:innen auf herzförmigen Zetteln. Draußen am Zelt kleben Streik-Highlights auf Post-its: „Immer mehr wachsende Streikbereitschaft“, „Neue Kollegen kennengelernt“.Der Streik verband gezwungenermaßen Menschen, die sich sonst nicht kennenlernen würden. Hier vor der Klinikkirche kamen sie zusammen, jung, alt, in Turnschuhen und Sandalen, in Radlerhosen und Sommerkleidern. Aus der Dermatologie, der Intermediate Care, der Notaufnahme – aus allen Bereichen des Krankenhauses. Die Streikenden verbrachten hier ihre Schichten. Sie trugen sich in Listen ein, Name, Bereich, Handynummer, Verdi ja/nein, und warteten ab, ob sie für Notdienste gebraucht wurden. Und weil hier, in Köln, die Verhandlungen liefen, kamen auch Delegierte der anderen fünf Unikliniken her.Die Vielfalt machte den Streik komplex. Es ging um viele unterschiedliche Abteilungen in sechs Häusern, die alle unterschiedlich strukturiert sind. In Köln, Bonn, Essen, Münster, Aachen und Düsseldorf streikten verschiedene Berufsgruppen, nicht nur Pflegekräfte, sondern etwa auch Personal aus den Laboren, dem Krankentransport und den Betriebskindergärten. Insgesamt ging es in den Verhandlungen um rund 25.000 Beschäftigte. Zugeständnisse, so erzählen es Streikende, habe es zunächst nur an die durch die Krankenkassen refinanzierten Bereiche gegeben. Aber die Streikenden wollten sich nicht derart spalten lassen.Probleme gebe es schließlich in allen Abteilungen, sagt Corinna. Sie ist OP-Pflegekraft und sitzt am Freitag auf einer der Bierbänke. Vor ihr liegt Lesestoff für ihre Masterarbeit in Pflegepädagogik, um den Hals trägt sie ihren Klinikausweis. In einem Krankenhaus müsse alles ineinandergreifen, erklärt sie: Wenn die Bilder nicht da sind, weil die Röntgenabteilung nicht hinterherkommt, kann bei ihr auf der HNO-Station die Operation nicht losgehen. Wenn die Transportleute unterbesetzt sind, kann es passieren, dass alles für eine Operation vorbereitet ist, aber die Patientin fehlt, weil sie noch auf ihrer Station liegt.Für ihre Masterarbeit hat Corinna gelesen, dass Lai:innen im Schnitt schätzen, bei einer typischen Operation seien rund zehn Leute im Saal. Auf Corinnas Station sind es eher um die fünf. Es sollten mindestens zwei Pflegekräfte dabei sein, aber manchmal, vor allem während der Pausenablösung, ist es nur eine. Die muss dann steril am Tisch stehen, während eine andere, unsterile, zwischen zwei OP-Sälen hin- und herläuft. Dabei können natürlich Fehler passieren.Tod durch UnterbesetzungWie dramatisch sich Unterbesetzung auswirken kann, lässt sich im Schwarzbuch Krankenhaus nachlesen. Dafür haben Beschäftigte der Unikliniken anonym von ihren Erfahrungen erzählt. Anfang Juli trugen Streikende die Berichte in einer voll besetzten Kölner Kirche vor. Sie hatten ein Banner dabei: „Personalmangel tötet. Aber danke für den Applaus“. Es sind Geschichten von einer Mutter, die gerade ihr Kleinkind verloren hatte, für die niemand Zeit hatte. Von einem Corona-Toten, dem sie den Arm brechen mussten, damit er in den Leichensack passte, weil niemand dazu gekommen war, ihn auf den Rücken zu drehen, bevor die Leichenstarre einsetzte. Von einem Patienten, der nach einem Röntgentermin starb, weil niemand bemerkt hatte, wie sich seine Sauerstoffflasche leerte, während er auf den Transport wartete.In den Tarifverhandlungen hat Corinna auch davon berichtet, wie unangenehm es für Patient:innen sein kann, die nur mit örtlicher Betäubung operiert werden, wenn sie niemand betreuen, ihnen niemand die Angst nehmen kann. Die Streikenden hatten für Operationen eine Untergrenze von 2,5 Pflegekräften gefordert. Bekommen sollen zentrale Operationssäle nun 2,25 und Corinnas Abteilung nur zwei, weil sie zu einer Außenklinik gehört. „Obwohl die Patienten genauso krank sind wie andere auch und wir die gleiche Arbeit leisten wie andere Fachabteilungen auch“, sagt Corinna. Sie ist froh, dass es einen Tarifabschluss geben wird – aber enttäuscht übers Ergebnis für die eigene Abteilung. Ein Wechselbad der Gefühle, wie dieser ganze, ewig lange Streik.Placeholder image-1Gewünscht hatte ihn sich niemand, aber die Entschlossenheit der Streikenden, etwas zu ändern, war groß gewesen. Um ihre Forderungen nach konkreten Untergrenzen zu stützen, hatten sie recherchiert, Empfehlungen von Fachgesellschaften und wissenschaftliche Studien durchgelesen, sich über die Situationen in anderen Ländern informiert.Viele Klinikbeschäftigte sind sich einig, dass sich die Arbeitsbedingungen verschlechtert haben, seitdem 2003 die sogenannten „Diagnosis Related Groups“ eingeführt wurden: Krankenhäuser erhalten für Patient:innen Pauschalen, die sich unter anderem aus deren Diagnose ergeben. Einen Patienten rasch wieder zu entlassen, lohnt sich also. Sich intensiv zu kümmern eher nicht.Pflegekräfte hätten auch weniger Mitspracherecht, seit es die Fallpauschalen gebe, sagt Katja. Für viele Ältere bedeutet der Streik deshalb auch: erfahren, was man erreichen kann, wenn man sich zusammentut. „In meinen gefühlt 30 Jahren in der Pflege ist das die erste Bewegung in dem Umfang“, sagt Katja. „Das erste Mal, dass Pflege für sich selbst eintritt.“ Vorher habe man für sich allein gekämpft. Habe zwar versuchen können, sich mit einer Entlastungsanzeige gegen schlechte Bedingungen auf der eigenen Station zu wehren. Aber jetzt bestehe die Chance, einmal wirklich etwas zu ändern – nicht nur punktuell, wenn es brennt. Eine Kollegin habe sogar einen Kredit aufgenommen, um trotz der Gehaltseinbußen streiken zu können. „Das war es ihr wert“, sagt Katja. „Streiken muss man sich ja leisten können. Es ist Wahnsinn, dass so viele so lange durchgehalten haben.“Neben der Pflegerin aus der Geburtshilfe sitzt ein junger Kollege aus der Notaufnahme, müde wie viele hier, die sich im Streik engagieren. Er hält Milo eine Sprotte hin. Corinna ist ins Gebäude nebenan gegangen, dort stellt die Verhandlungsgruppe dem Delegiertenrat das neueste Angebot der Arbeitgeberseite vor – jenes, das vier Tage später angenommen werden wird. Für manche bedeutet es Freude, für andere Frustration: Die Berufsgruppen, die nicht direkt mit Patient:innen arbeiten, bekommen längst nicht, was sie gefordert hatten. Aber dass dieses Angebot überhaupt existiert, das ist ein Erfolg. Zwischendurch dringt ein vertrautes Geräusch nach draußen. Applaus.
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