Eine Biene war es einst, die das große Heer von Alexander dem Großen vor dem Verdursten rettete. So zumindest will es die Fabel, die der Dorflehrer seinen Schülern erzählt. Mitten in der weiten tadschikischen Landschaft stehen sie um einen zusammengestürzten Turm, der früher als Grab für die Toten diente. Und für die, die dem Tod schon nahe waren. Doch die Alten zu ehren, statt sie dem Tod durch Aasgeier zu überlassen, lehrt die Fabel. Und der Film. Bei Alexander dem Großen ist es ein alter Mann, der den Rat gibt, der Biene zu folgen, um auf Trinkwasser zu stoßen. In dem Film Der Flug der Biene wird am Ende ein gebücktes Väterchen dem Lehrer den Weg aus der Misere weisen. Vorerst aber ist der Alte nur Mittel zum Zweck.
Auf seinem Grundstück soll nämlich eine tiefe Grube gegraben werden. Der Lehrer hat es ihm abgekauft, um direkt vor der Nase des Bürgermeisters eine öffentliche Toilette zu bauen. Denn Eigentum ist Eigentum. Und mit dem kann jeder machen, was er will. So zumindest hat das der Bürgermeister erklärt, als ihn der Lehrer mit der Bitte aufsuchte, ein Wort einzulegen bei dem neureichen Nachbarn, der seinen Abtritt direkt an den Hof des Lehrers gebaut hat - und ihn damit unbetretbar gemacht hat. Noch dazu wirft er der Frau des Lehrers über den Zaun hinweg lüsterne Blicke zu. Der Bürgermeister aber will von so etwas gar nichts wissen. Er hat schon genug damit zu tun, seine korrupten Pflichten zu erfüllen und den vielen Wünsche seiner Verwandten nachzukommen. Also verkauft der Lehrer seine zwei abgemagerten Schafe und ersteigert das Haus des Alten. Der wohnt fortan im angrenzenden Schuppen und singt immerzu Klagelieder. Was ihn nicht davon abhält, manchmal keck einen Nutzen aus seiner Gebrechlichkeit zu ziehen. Um sich dann mit der gelassenen Weisheit eines Alten darüber zu freuen.
Der Lehrer aber beginnt zu graben. Mit dem Zorn eines Gedemütigten. Tag und Nacht schuftet er und nichts kann ihn davon abhalten. Nichtmal, als die Polizei seinen Sohn einsperrt, lässt der Unnachgiebige, dessen liebevolles Gesicht längst den zerfurchten Zügen eines Gemarterten gewichen ist, den Spaten ruhen. Und als er in der Grube fast erstickt, stiehlt er sich schon kurz darauf aus dem Krankenhaus: Die Vergeltung, oder eben: die Toilette, ruft. Zunehmend mehr Dorfbewohner reihen sich ein in sein Streben nach Gerechtigkeit, bei dem er doch nur so handelt, wie es im Gesetzbuch geschrieben steht. Doch letztlich ist es der alte Mann, der abseits des schweißtreibenden Kampfes nach Gleichheit vor dem Gesetz Quellwasser am Grund der Grube entdeckt. Süßwasser. Das so golden aus der Tiefe nach oben schimmert, wie der Honig der Bienen. Der Rachedurst ist gestillt. Wie damals der Durst des Heeres von Alexander dem Großen.
Der Tadschike Djamshed Usmonov und der Koreaner Min Wen Hun, die beide Regie geführt haben, erzählen in Der Flug der Biene die Geschichte des Lehrers so liebevoll und mit so rührender Komik, als ob sie selbst Dorflehrer seien, die ihren Kindern die Legenden ihrer Vorväter beibringen wollten. Usmonov berichtet, sein Urgroßvater, ein armer, aber anerkannter Lehrer habe seinen Schülern diese Geschichte bereits weitergegeben: sie habe sich tatsächlich in dem über dreitausend Jahre alten Dorf Ascht, dem Heimatdorf Usmonovs, zugetragen. Trotz der politischen Metapher für die Höhen der Macht und die Niederungen der Ohnmacht erzählen die Regisseure die Dorflegende ohne moralisch erhobenen Zeigefinger und Sozialpathos. Vielmehr erzeugen sie durch Humor eine Zuneigung für die in ihrer Harschheit schon wieder skurrilen Dorfbewohner. Kleine Vorkommnisse, die im Grunde nichts zum Verlauf der Geschichte beitragen, geben dem Film seinen liebevoll ironischen Unterton. Ein Dorfbewohner (übrigens Usmonov selbst) erfährt vom Lehrer, dass sein Sohn genauso faul ist wie er selbst. Doch statt sich Sorgen zu machen, ist er stolz auf seinen Nachkömmling. Und weil die Vorzeichen schon so umgedreht sind, freut sich der Lehrer gleich mit ihm. Dass der Humor dabei nie versöhnlich wirkt, ist ein großer Verdienst des Films. Er bewahrt vielmehr eine Rauheit, die sich überdies in den schlichten Bildern ausdrückt. Denen sieht man die Zeit nicht an: Eindrücke der traditionellen und der postsowjetischen Ära greifen ineinander und Vergangenheit und Gegenwart sind eins in dem tadschikischen Dorf. So zeitlos wie das Streben nach Gerechtigkeit. Doch anders als das Sprichwort besagt, ist nicht die Rache süß. Das Glück ist es. Und dass man sich, um das zu finden, erst scheinbar sinnlos durch Schlamm und Korruption kämpfen muss, das wußte zuvor nur der Alte.
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