Ein Bekannter, der als Hausarzt in einem Berliner Altbaugebiet im allgemeinen ältere Leute medizinisch versorgt, bemerkte kürzlich, selbst in diesem Umfeld gebe es zunehmend mehr Patienten, die mit einem Ausdruck irgendeiner medizinischen Website in die Sprechstunde kämen. Für ihn bedeute das, sich mit den dort geschilderten Angaben über eine Krankheit oder eine Behandlungsmethode auseinandersetzen zu müssen, ganz gleich, wie realistisch oder abenteuerlich diese auch seien. Manchmal, setzte er wehmütig hinzu, wünsche er sich die Zeiten zurück, in der die Patienten ihrem Arzt noch als Experten und Vertrauensperson wahrnahmen.
Der informierte Patient
Diese Zeiten sind wohl vorbei. Aktuell sind (mindestens) 52 Prozent aller Bundesbürger online. Und während die männlichen User Umfragen zufolge meist ohne bestimmte Zielrichtung im Netz surfen, sind die 41 Prozent weiblichen Nutzer auf der Suche nach bestimmten Informationen. Die medizinischen Wesbites stehen dabei auf dem ersten Platz bei der Netzsuche. Dabei informieren sich die Userinnen nicht nur über eigene Krankheiten und Befindlichkeiten, sondern tun dies in der Regel auch für Partner, Kinder, Verwandte und Bekannte, die selbst keinen Zugriff auf das Netz haben.
So ist es kein Wunder, dass die Zahl der sich auf diese Weise informierenden Patienten in den vergangenen Jahren sprunghaft gestiegen ist. Ärzte in Praxis und im Krankenhaus begegnen einem "informierten Patienten", der seine Informationen nicht nur aus Printmedien oder dem Fernsehen, nun vor allem aus dem Internet bezieht. Ein - allerdings kleiner werdender - Teil dieser Ärzte hält dies für keine gute Entwicklung. Viele glauben, so eine repräsentative Umfrage unter Klinikärzten 1999, das Arzt-Patienten-Verhältnis werde auf diese Weise belastet. Von "gemischten Gefühlen" ist deshalb auch in einem Beitrag im Deutschen Ärzteblatt im Februar 2000 die Rede. Das Internet werde Tätigkeit und Selbstbild des Arztes sukzessive verändern.
Dem hielt der Heidelberger Medizininformatiker Reinhold Haux beim 4. Weltkongress "Medizin und Internet" 1999 in Heidelberg entgegen, der Patient werde informierter und damit mündiger. Die neue Rollenverteilung erfordere einen Lernprozess auf beiden Seiten, könne jedoch letztlich zu einer qualitativ besseren und kostengünstigeren Gesundheitsversorgung führen.
Mittlerweile kann man allein in Deutschland von mindestens 100.000 Internetseiten zum Thema Gesundheit ausgehen, zugänglich für jedermann. Dieses Angebot wächst täglich, wenngleich auch immer wieder Websites aus dem Netz verschwinden. Die Anbieter sind so vielfältig wie die Themen, die sie offerieren. Medizinische Fachgesellschaften, Pharmaunternehmen, Selbsthilfegruppe, einzelne Ärzte und interessierte Laien, verschiedenste Interessengruppen installieren mehr oder weniger professionell aufbereitete Websites mit einer Fülle von Informationen zu Erkrankungen, Behandlungsmethoden, Medikamenten und Selbsthilfetipps. Eine Stichworteingabe über die gängigen Suchmaschinen genügt.
Google etwa findet unter dem Keywort "Arthrose" in wenigen Sekunden rund 151.000 Treffer: Artikel, Vorträge, Rundfunkmanuskripte, Buchverweise, in denen der Begriff Arthrose verschlagwortet wurde. Der Patient begibt sich auf die Suche nach erfolgversprechenden Therapien - und kann fast alles finden: von der Operation über Medikamente und Kräuter bis zur Magnetfeldtherapie. Was ist richtig, was falsch? Das Misstrauen vieler Ärzte gegenüber den von Patienten recherchierten Medizininformationen ist nicht ganz unberechtigt: Studien zufolge sind 70 bis 80 Prozent der im Internet verbreiteten Informationen zu Gesundheitsfragen falsch oder veraltet (EU-Informationsbrief Gesundheit, Heft 5/2000). Dennoch steht der Internetnutzer nicht ganz hilflos vor dem Informationsüberangebot. Es gibt inzwischen einige Rettungsanker, die das Ertrinken in der Datenflut verhindern helfen.
Rettungsanker in der medizinischen Datenflut
Einer davon heisst HON, in der Regel im Impressum einer Website zu finden. Die Stiftung "Health On the Net" (HON) war eine der ersten Organisationen, die sich dafür einsetzte, dass medizinische und Gesundheitsinformationen im Internet bestimmten ethischen Prinzipien genügen sollten. So gibt deren Verhaltenskodex etwa vor, dass alle medizinischen und gesundheitsbezogenen Ratschläge nur von geschulten Fachleuten gegeben werden oder ansonsten eindeutig erkennbar ist, von wem die Informationen stammen. Information und Werbung müssen klar voneinander abgegrenzt werden. Alle einschlägigen Informationsanbieter können eine Mitgliedschaft in der Health On the Net Foundation beantragen. Etwa 2.800 Internetseiten haben bislang das Prüfsiegel von HON erworben, das auch wieder aberkannt werden kann.
Seit Juni 2000 arbeiten das EU-Projekt Med Certain und sein Nachfolgeprojekt Med Circle an der Entwicklung eines mehrstufigen Qualitätssiegels für Gesundheitsinformationen im Internet. Die erste Stufe des Siegels wird vergeben, wenn der Anbieter einer Internetseite sich bei MedCERTAIN anmeldet, bestimmte Informationen zu der Internetseite zur Verfügung stellt und sich zur Einhaltung eines "Codes guter Praxis" ("Washington Code of Health Ethics") verpflichtet. Das Siegel zweiter Stufe wird Internetseiten verliehen, wenn ein Mitglied des MedCERTAIN-Teams die Internetseite nach bestimmten formalen Qualitätskriterien prüft. Und wenn ein unabhängiger Experte das Angebot auch auf ihre fachliche Qualität hin überprüft hat, wird das Siegel der dritten Stufe vergeben.
Für Patientenorganisationen wie auch für den ganz normalen Patienten ist DISCERN gedacht. Die Medizinische Hochschule Hannover und die Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung haben dazu einen in Großbritannien entwickelten Fragebogen zur Bewertung von medizinischen Publikationen ins Deutsche übersetzt und sowohl im Internet als auch als Handbuch veröffentlicht. Der Fragebogen ermöglicht eine Bewertung medizinischer Publikationen im Internet nach 15 Kriterien. Informationsquellen müssen klar sein, Nutzen und Risiken des beschriebenen Behandlungsverfahrens und alternative Behandlungsmöglichkeiten müssen benannt werden.
Man kann aber auch schon bei der Auswahl der Websites in gewissem Maße entscheiden, ob eine Information seriös ist oder eher nicht. Viele Universitäten und wissenschaftliche Fachgesellschaften informieren über Erkrankungen, die sie behandeln, und geben patientenorientierte Infos weiter. Das ist in der Regel eine seriöse Quelle. Auch große Patientenorganisationen informieren über das Internet, und bei ihnen findet man in der Regel auch Links auf weiterführende Websites. Internetinformationen von Pharmafirmen haben nicht selten ein öffentliches Portal, in dem Erkrankungen vorgestellt werden, zu denen die Firma arbeitet beziehungsweise forscht. Diese Infos sind nicht per se verkaufsorientiert, aber man sollte im Hinterkopf behalten, wer hier als Anbieter fungiert. Eine erste Voraussetzung für die Seriosität einer Website ist es, dass im Impressum eindeutig gesagt wird, wer wo diese Seiten initiiert hat, und wer sie betreibt. Dann bleibt es einem selbst überlassen, ob man sich nach dem Betreiber noch eingehender erkundigt (z. B. wieder über Google).
Auch Ärzte entdecken das Intenet
Obwohl sich der ärztliche Berufstand jahrelang eher skeptisch gab, erkennen immer mehr Ärzte den Werbefaktor, den eine Website für ihre Praxis haben kann. Es ist durchaus nützlich, wenn Patienten Öffnungszeiten und Ansprechpartner ihres Haus- oder Facharztes aus dem Netz erfahren können. Viele Ärzte informieren auch über ihre Spezialqualifikationen und -angebote wie eine naturheilkundliche Zusatzausbildung oder über die anstehende Grippeschutzimpfung. Von Fachärzten initiiert, sind im Netz auch spannende Fachthemen zu finden, etwa aus dem Bereich Psychiatrie.
Allerdings ist auch hier mitunter Skepsis angebracht. So informierte die kritische Medizinzeitschrift Dr. med. Mabuse in ihrer jüngsten Ausgabe darüber, dass viele Websites niedergelassener Gynäkologen die neuen Erkenntnisse über den zweifelhaften Nutzen von Hormonersatztherapien verschweigen. Lediglich 24 der 94 analysierten Websites bezogen sich auf die Studie der amerikanischen Women´s Health Initiative, die auf Grund der Untersuchungsergebnisse zur Hormonersatztherapie abgebrochen wurde. Nur wiederum elf davon stellten Nutzen und Risiko gegenüber. Die meisten betonten den (zweifelhaften) Nutzen von Hormonen in den Wechseljahren und empfehlen sie, "ohne auch nur ansatzweise Alternativen" zu diskutieren. Ein Beweis dafür, dass Skepsis gegenüber Internet- und anderen Experten-Weisheiten angebracht bleibt.
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