Behandlung wider Willen

Psychiatrie Medikamentöse Zwangsbehandlung von psychisch kranken Menschen ist in Krankenhäusern leider gängige Praxis. Ein neues Gesetz soll das jetzt ändern - vielleicht

„Nehmen Sie das jetzt, sonst kriegen Sie eine Spritze.“ Katrin Bauer hat den Satz schon oft gehört. Und ihre Medikamente lieber „freiwillig“ genommen. Sie wollte nicht riskieren, dass die Pfleger sich Gummihandschuhe anziehen und sie auf dem Klinikbett festbinden, dass der Arzt die Dosis injiziert. Seit ihrem 12. Lebensjahr ist sie psychisch krank, jetzt wird sie bald dreißig. Wenn es ihr gut geht, lebt sie alleine in ihrer Dachgeschosswohnung, unterstützt von ihren Wohnbetreuerinnen, die täglich vorbeikommen, und von ihren Freundinnen und ihrem Lebensgefährten.

Wenn es ihr schlecht geht, hat sie Angst vor Fenstern oder fühlt sich „wie ein offenes Buch“. Dann muss sie in die Klinik, manchmal für mehrere Wochen oder Monate. „Paranoid-schizophrene Störung, dissoziative Störung, Bulimie“: Wenn Bauer ihre Diagnose erklärt, klingt sie sachkundig. „Ich denke, dass psychisch kranke Menschen die Experten für ihre Krankheit sind. Ich weiß am besten, was mir gut tut.“

Zwangsbehandlung gängige Praxis

Diese Ansicht wird von den behandelnden Ärzten nicht unbedingt geteilt. Medikamentöse Zwangsbehandlung von psychisch kranken Menschen war bis vor kurzem gängige Praxis in psychiatrischen Krankenhäusern. Um die zehntausend Menschen sind davon betroffen. So wurden im vergangenen Jahr mehr als 57.000 Menschen auf Betreiben ihres Betreuers gegen ihren Willen in geschlossenen Einrichtungen untergebracht – etwa weil sie selbstmordgefährdet sind. „Man kann davon ausgehen, dass ein erheblicher Teil der Unterbringungen mit Zwangsbehandlungen verbunden ist“, meint Rechtsanwalt und Journalist Oliver Tolmein. Nach Angaben der Bundesregierung kommen außerdem rund 78.000 Menschen hinzu, die nach den landesrechtlichen Vorschriften eingewiesen wurden, sowie einige Hundert, die im Maßregelvollzug untergebracht sind.

Die Ärztevereinigung Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) hat deshalb nun die Politik aufgefordert, endlich einen klaren gesetzlichen Rahmen zu schaffen. Der Hintergrund: Das Bundesverfassungsgericht hatte im vergangenen Jahr entschieden, dass die Zwangsbehandlung nur unter strengen Voraussetzungen zulässig ist. Tatsächlich jedoch gibt die geltende Rechtslage solche Voraussetzungen nicht her – so der Bundesgerichtshof in zwei Urteilen diesen Sommer.

Eingriff als Folter erlebt

Die Ärztevereinigung DGPPN befürchtet nun, dass die unklare Rechtslage dazu führt, dass medikamentöse Behandlungen ausgesetzt werden und stattdessen andere Zwangsmaßnahmen zunehmen wie beispielsweise geschlossene Unterbringungen, Separierungen oder mechanische Fixierungen. Anders der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener. Er hat die neueren Gerichtsentscheidungen begrüßt und angekündigt, sich dafür einzusetzen, dass der Gesetzgeber die medikamentöse Zwangsbehandlung nicht durch ein neues Gesetz legalisiert. In einer Stellungnahme betonte der Verband: „Viele Zwangsbehandelte erleben diese Eingriffe als Folter“.

Die Verfassungsrichter haben in ihrem Urteil klargestellt, dass sich Grundsätzliches ändern muss. Die Zwangsbehandlung dürfte allenfalls als „letztes Mittel“ eingesetzt werden. Außerdem wies das Gericht darauf hin, dass in einer geschlossenen Einrichtung Untergebrachte davor geschützt werden müssen, dass ihre Grundrechte „aufgrund von Eigeninteressen der Einrichtung und ihrer Mitarbeiter oder aufgrund von Betriebsroutinen unzureichend gewürdigt werden.“

Verfassungsrichter machen Vorgaben

Die meisten Mediziner bestehen jedoch darauf, Zwangsbehandlungen durchführen zu dürfen – weil sie überzeugt sind, dass sie helfen können. „Ärzte werden gezwungen, behandelbaren Menschen wirksame Hilfe vorzuenthalten“, so die DGPPN. „Einer Mehrheit der Patienten mit schizophrenen Störungen kann nach einer Behandlung ein sozial integriertes Leben ermöglicht werden.“ Doch die soziale Integration darf kein Grund für eine Zwangsbehandlung sein. Das Bundesverfassungsgericht hat darauf eine klare Antwort gegeben: Eine „Vernunfthoheit“ des Staates gibt es nicht. Nur weil es „vernünftig“ wäre, muss sich niemand behandeln lassen. „Insbesondere bei forensischen Psychiatern stelle ich oft fest, dass das Problembewusstsein hinsichtlich der Zwangsbehandlung fehlt“, warnt Oliver Tolmein. „Das zeigt auch, dass diese Rechtsprechung dringend erforderlich ist.“ Denn für die Betroffenen ist es oft schwer, ihre Rechte durchzusetzen. So Katrin Bauer: „Die Psychiatrie ist auch ein bisschen ein rechtsfreier Raum.“

Annelie Kaufmann schreibt im Freitag zu rechtspolitischen Themen

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden