Abflug Tegel

Berliner Abende "Meine Mutter ist im Gefängnis", sagte mein Sohn an diesem Abend zu jedem bekannten und unbekannten Anrufer, der mich zu sprechen wünschte. Die ...

"Meine Mutter ist im Gefängnis", sagte mein Sohn an diesem Abend zu jedem bekannten und unbekannten Anrufer, der mich zu sprechen wünschte. Die meisten waren erstaunt. "Was hat sie denn ausgefressen?" Als wenn es nicht noch andere Tätigkeiten im Gefängnis gäbe als die der Untätigkeit der Gefangenen. Ich könnte ja seit 1. Januar auch Sozialarbeiterin sein, Pfarrerin oder eine, die sich gern mit Justizvollzugsbeamtin anreden ließe. Und wehe, man sagt Schließerin zu mir oder gar Schlüsselanhänger wie im Knastjargon. Aber im Gefängnis herrscht, wie in allen senatseigenen Einrichtungen, Einstellungsstopp.
Ich war eingeladen zu einer Probe der Knasttheatergruppe aufBruch. Im letzten Jahr hatte ich mitgemacht bei einem Stück über die Gladowbande. Jetzt war eine neue Inszenierung in den Endproben. IKARUS: Abflug Tegel.
Am Eingang lässt man mich warten, weil erst eine lange Schlange von Besucherinnen abgefertigt werden muss. Ihre Männer werden in den Aufenthaltsraum geführt. Eine kurze Stunde lang werden sie versuchen, an den Sprelacardtischen so etwas wie intime Gemütlichkeit zu schaffen. Es riecht nach Kaffee, als ich schließlich mit einem Beamten den langen, von Gittertüren unterbrochenen Gang entlanggehe. Jedesmal schließt er hinter mir sorgfältig die Tür mit dem längsten Schlüssel seines riesigen Schlüsselbundes. Als wir endlich ankommen im Kultursaal, proben zwanzig Gefängnisinsassen gerade das Fliegen. Durch die Milchglasscheiben der Fenster sind die ganz realen Geräusche von Flugzeugen im Landeanflug zu hören. Das ist weniger Ikarus als Tantalus, der Qualen erleidet, weil er durstig das Wasser sieht - oder in diesem Falle hört - an das er nicht herankommt.
Vor einem Dreivierteljahr bin ich das letzte Mal hier gewesen. Die meisten Schauspieler sind immer noch da, die Haare ein bisschen länger oder kürzer, ein Vollbart, noch mehr Muskeln, blasser als beim letzten Mal. Von einem von ihnen heißt es, der säße schon wieder, habe die Freiheit nicht ausgehalten oder das 11. Gebot missachtet: Du sollst dich nicht erwischen lassen. Für mich ist die Zeit wie im Flug vergangen. In Tegel dagegen ist die größte Strafe, dass die Zeit nicht vergeht. Als hätten die dort absichtlich langsamere Uhren.
Tegel, das ist Synonym für Flughafen und Gefängnis, Freiheit und Verlust derselben. Aber die da oben im Flugzeug sind auch eingesperrt, in riesigen Gemeinschaftszellen. Da möchte man doch lieber Vogel sein. Der junge Bühnenbildner hat eine steil aufragende Rampe in den Raum gestellt. Dort können die Gefangenen das Fliegen üben. Aus dem Fenster fliegen können sie nicht. Die sind vergittert. Wer Verbannten öffnen will das Tor der Stadt/mag bei uns Zaunschlüpfer sein/Denn wir halten´s für nichts Schlimmes, durchzuschlüpfen, wo man kann, deklamiert Christian.
Das Textbuch wird bis zur Generalprobe ein stetig sich änderndes Provisorium sein. Diesmal besteht es aus einer Mischung aus Rudimenten der Vögel von Aristophanes, einer Lyrikanthologie über Ikarus, Betriebsanleitungen des Flughafenwesens und den Ausbruchsträumen der Gefangenen, die in Improvisationen auf ihre Bühnentauglichkeit geprüft wurden. Das Stück beginnt auf dem Flughafen. Der Flug 3452 ist auf unbestimmte Zeit verschoben, die Stewards philosophieren, und die Reisenden mit ihren Koffern füllen die Wartezeit mit Legenden: Träume, Höhenflüge, Alltagsfluchten, Knastausbrüche auf Deutsch, Türkisch, Serbokroatisch und Französisch. Nicht nur der Flughafen ist international.
Nach fünf Stunden in einem schlecht gelüfteten Raum, der das Licht nur durch vergitterte Milchglasscheiben lässt, ist die Konzentration am Ende. Die Chöre klingen wie Hooligangesänge, und in der Auswertung am Ende der Probe fragen die Schauspieler mich, ob ich irgend etwas verstanden hätte. Sie hätten da Zweifel. "Wenn ich Nerven für so was hätte, wäre ich Schauspieler geworden und säße nicht im Gefängnis", sagt einer der Muskelmänner. "Mir zittern die Hände nicht, wenn ich eine Pistole halten muss, aber hier, immer."
Der Abend endet für die Schauspieler in den Zellen und für den Rest der Truppe in der "Goldenen Freiheit". Solche Art von Kneipen gibt es nur noch im Westen. Ein Plakat kündigt einen längst vergangenen Grünkohlabend mit Maria an, auf Wunsch auch mit Eisbein. Alles ist falsch hier, das Gold, die Freiheit, die Haarfarbe der Wirtin, der Ficus Benjaminus mit der Weihnachtsbeleuchtung, die Blumen auf dem Tisch, die Holzverkleidung. Vielleicht sind noch nicht einmal die Euro in der Kasse echt. Aber auf eigenartige Weise stimmt dann doch wieder alles. Der Vollzugsbeamte am Nebentisch zahlt und macht sich auf den Weg zur Schicht.

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