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New Yorker Mittag YOUR MONEY CAN´T WORK HARD IF THE PERSON BEHIND IT DOESN´T. Seit mindestens zehn Minuten fiel mir immer wieder das Transparent auf der ...

YOUR MONEY CAN´T WORK HARD IF THE PERSON BEHIND IT DOESN´T. Seit mindestens zehn Minuten fiel mir immer wieder das Transparent auf der gegenüberliegenden Seite der 48. Straße ins Auge. Ich fragte mich einerseits, ob es die Baufälligkeit des Hauses kaschieren sollte und andererseits, was dieser protestantische Arbeitsethos hinter dem Spruch mir sagen wollte. Ein Firmenname war nirgends zu entdecken. Eigentlich konnte es mir egal sein, denn Geld, was man nicht hat, arbeitet auch nicht für einen. Selbst das Buch, das ich in der Hand hielt, hatte mein Begleiter bezahlt. Ich war seit fast einer Stunde Teil einer Schlange, die sich am Rockefeller Center die 48. Straße entlangzog und hatte es schon auf Position 40 gebracht. Meine Zeit war zu kostbar, um hier zu stehen, aber andererseits konnte ich jetzt auch nicht wieder zurück. Ich schätzte Pi mal Daumen, dass ich in circa einer halben Stunde ein Autogramm von Michael Moore haben würde. Ich sammle keine Autogramme und bin nicht besonders heiß auf Erstausgaben. Und ich bin auch kein Fan von Michael Moore. Die Fakten über Amerika kenne ich schon aus dem Staatsbürgerkundeunterricht, Michael Moore ist nur im Gegensatz zu den alptraumhaften Staatsbürgerkundelehrern ironiebegabt. Vor drei Tagen war meinem Begleiter im Schaufenster der Filiale der Buchhandelskette Barnes auf der 5. Avenue, Ecke 48. Straße das Plakat "Autogrammstunde mit Michael Moore" ins Auge gefallen, und wir hatten beschlossen, aus Neugierde hinzugehen. Eine ethnologische Expedition, mehr nicht. Es war dann aber eine Haupt- und Staatsaktion, denn zehn Minuten vor dem Termin wurde eine ausgeklügelte Verkaufsstrategie in Gang gesetzt, die den Autor vor neugierigen Blicken mit Hilfe von als Barrikade genutzten Bücherregalen der Lyrikabteilung schützte und nur Menschen zu ihm ließ, die vorher die Kassenzone durchlaufen und ein Buch erworben hatten. Dann wurde man von der Security aus dem Laden und um die Ecke gelotst, wo einen hintereinander plazierte Menschen angrinsten, die Bücher in der Hand hielten, auf denen ein unangestrengt blickender Michael Moore ein Bush-Standbild an einer Kette ziehend stürzt. Erst hundert Meter vom Seiteneingang der Buchhandlung entfernt, noch hinter dem Durchgang zur Rockefeller Plaza, kam das Ende der Schlange. Ein Security-Mann mit Headset klärte uns Neuzugänge über den Verhaltenskodex auf: Nicht mehr als fünf Bücher signieren lassen, keine engen Verbrüderungen mit dem Autor, die Fotoapparate müssen den zuständigen Mitarbeitern übergeben werden, und ja nicht gegen die Fensterscheiben fremder Geschäfte lehnen. Genau das hatte ich aber gerade gemacht und der Mann zog mich an der Schulter wieder in die Gerade. Die Leute in der Schlange waren fast alle weiß, einige trugen Buttons mit der Forderung nach einem Amtsenthebungsverfahren gegen Bush am Jackett. Passanten blieben neugierig stehen und fragten, auf was wir hier warteten. Beim Namen Michael Moore wendeten sie sich entweder verächtlich ab oder lächelten.

Nach einer halben Stunde wollten sich zwei Mädchen von uns adoptieren lassen, um nicht ans Ende der Schlange zu müssen. Sie behaupteten, unsere Töchter zu sein, was durchaus im Rahmen des Möglichen gewesen wäre, wenn wir nur den Mund gehalten hätten. Wir hatten sie auch schon fast ins Herz geschlossen, als der Security-Mann sie barsch von uns wegriss und wieder zurück ans Ende expedierte.

Das Schlangestehen ist ja ein bisschen aus der Mode gekommen und impliziert immer gleich Mangelwirtschaft. Mein Begleiter, der, weil er älter ist, auch länger in der DDR angestanden hatte, machte sich nach fünfzig Minuten entnervt aus dem Staub. Ich blätterte im Buch und las die Geschichte von dem Mann, der am 11. September auf dem Weg zur Arbeit im World Trade Center plötzlich Durchfall bekam und wieder nach Hause fuhr, als der nächste Mitarbeiter von Barnes kam und sich von jedem einzelnen die Namen diktieren ließ, denen das Buch gewidmet werden sollte. Er schrieb meinen Vornamen auf einen gelben Haftzettel und klebte ihn auf den Haupttitel.

Und dann ging alles sehr schnell. Ich durfte als eine von fünf den Seiteneingang betreten und sollte das Buch bereithalten. Als ich an dritter Stelle war, nahm eine Frau den Fotoapparat und ließ sich den Auslöser zeigen, schließlich wurde ich an den Tisch geschoben, ein Mann nahm mir das Buch ab, schlug es auf und reichte es dem Autor, der mit grünem Filzstift meinen Namen schrieb und in meine Richtung etwas wie "How are you" murmelte, aber ich konnte nicht antworten, denn die Frau mit meinem Fotoapparat forderte uns auf, in die Kamera zu blicken. Moore sieht auf dem Foto wie ein sehr erschöpftes Krümelmonster aus, während ich wie ein Honigkuchenpferd grinse. Dass ich danach von dienstbaren Hilfsgeistern samt Buch und Fotoapparat von der Szene geschoben wurde, ist nicht zu sehen.

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