Auf Nebengleisen

Überlebensreisekultur In der ostdeutschen Provinz ist man von der Hochgeschwindigkeitswelt abgekoppelt. Bahn-Betrachtungen von Annett Gröschner

Für ein paar Wochen habe ich die Seiten gewechselt. Ich bin nicht in der Stadt und komme nur gelegentlich, um der Familie über den Kopf zu streichen. Um in Berlin zur Fremden zu werden, genügt schon eine Zugfahrkarte vom Dorf in die Tarifzone Berlin AB, die der Busfahrer zu sehen wünscht. „Sie brauchen noch nicht aufzustehen“, sagte neulich einer väterlich über die Lautsprecheranlage des Busses zu mir, der vermeintlichen Frau vom Land, „ich muss erst noch über zwei Ampeln“.

Ich war immer schon Kundin der Bahn. Ich habe kein Auto und fliege nicht gern. Ich arbeite gern im Zug. Seit ich etwa wöchentlich mit der Regionalbahn durch die ostdeutsche Hochgeschwindigkeitssteppe fahre – jenseits der Elbe sind drei der fünf Landeshauptstädte, Potsdam, Magdeburg und Schwerin vom ICE-Takt abgehängt – habe ich eine ganz andere Wahrnehmung denn als Kundin im ICE. Ich fahre durch ein anderes Land.

An diesem Morgen auf dem Bahnhof von Jüterbog warten eine Menge Pendler auf den Regionalexpress. Pendler sind meistens daran zu erkennen, dass sie sich, weil sie eine Abonnementkarte haben, nicht mit dem Fahrkartenautomaten herumschlagen müssen, der, wie alles hier, um einiges langsamer ist als in der Stadt und Befehlen folgt, die selbst ein Eisenbahnfahrprofi nicht immer gleich durchschaut. Der Schalter im Bahnhofsgebäude wurde geschlossen. Er hatte ausgesehen wie eine Mini-Ausführung des Berliner Hauptbahnhofs. Es gab eine Menge zu kaufen, Süßigkeiten, Bier, Bild, aber wenn jemand eine Fahrkarte, sagen wir mal nach Jena, verlangte, dann geriet der Verkäufer ins Schwitzen.

An den Bahnhöfen der Provinz ist der Niedergang der Bahn zum börsenorientierten Schnellverkehrsunternehmen deutlich zu erkennen. Die meisten Bahnhofsgebäude stehen leer, nur die Stadt Luckenwalde hat in ihrem die Stadtbibliothek untergebracht und noch ein goldenes Ufo angeklebt, in dem Kinder lesen und dabei ein wenig fliegen können. Die Bibliothek ist eine wunderbare Wartehalle, allerdings nur zu den Öffnungszeiten. In Jüterbog dagegen soll in einem der Bahnhofsgebäude demnächst ein Bordell eingerichtet werden. Dann kann Mann sich da die Zeit vertreiben und dem ausgedünnten Verkehr etwas entgegensetzen. Bis dahin ist der Bahnhof Jüterbog nur noch ein unbedeutender Haltepunkt, durch den alle halbe Stunde ein ICE oder IC mit 200 Stundenkilometern rauscht, meist ohne Lautsprecherwarnung. Immer wieder müssen Kleinkinder durch beherztes Abfangen vorm Angesaugt- und Totgequetschtwerden gerettet werden.

An diesem Morgen hampelt eine Gruppe von Jugendlichen sehr nah an der Bahnsteigkante herum. Sie haben ihre Basecaps zwei Nummern zu klein gestellt und tragen sie wie Hüte auf dem Kopf. Einer führt das große Wort. Er erklärt das letzte Wochenende, indem er mit dem Fuß ein auf dem Boden liegendes unsichtbares Bündel zusammentritt. „Und dann war am Ende Blut an meinem Schuh.“ Als er das sagt, tänzelt er auf einem Bein an der Bahnsteigkante herum. Wenn jetzt ein Schnellzug käme, würde ich regungslos stehenbleiben. Es taucht aber nur die Regionalbahn auf.

In der Zeit der Pendelei habe ich eine neue Begründung für Verspätungen kennen gelernt. „Hohe Streckenauslastung und damit verbundene Störung im Betriebsablauf“ heißt es bei jeder zweiten Fahrt. Heute haben wir Verspätung, weil der aufgrund eines Wildunfalls eingesetzte Ersatzzug nur 120 km/h fahren kann. Ich habe den Zug auf dieser Strecke noch nie schneller als 100 km/h fahren sehen. Hinter mir gibt ein Mann einer Frau den Rat, niemals einen Gebrauchtwagen in Berlin zu kaufen. Sie lacht. „Ich nehm eh den Zug, auch wenn er gebraucht ist, wie der hier.“ Aus den fadenscheinigen Sitzpolstern quillt Schaumgummi. Mit 15-minütiger Verspätung fahren wir auf den Berliner Hauptbahnhof ein.

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