Die Deutsche Bahn ist so arm, dass sie jetzt schon ihre Bahnhofshallen vermieten muss. Neulich stieg ich abends nichtsahnend Bahnhof Friedrichstraße aus dem Regionalexpress und stand in der Bahnhofshalle vor einem Haufen Giftschlangen, die zwischen Edeka und Fischimbiss in Terrarien schliefen. Schlangen kennt man auf diesem Bahnhof allenfalls im Reisezentrum, wo man mitunter eine Stunde steht, um eine lumpige Fahrradkarte zu erwerben und der Bahn nichts weiter wünscht, als zwei, drei vernichtende Konkurrenzen.
Die Terrarien waren wie eine Trutzburg in Feindesland angeordnet und um die Burg rannte ein Mann, der an Rumpelstilzchen erinnerte. Er trug ein grünes T-Shirt mit dem Aufdruck "Nordharzer Schlangenfarm - Europas größte Schlangenfarm". Die Burg stand mitten im Weg, man konnte ihr nicht ausweichen, ohne über die Diamantklapperschlange oder die in einer Kinderbadewanne liegende gelbe Anakonda zu stolpern. Viele Reisende blieben stehen und versuchten, die Schlangen durch Klopfen an die Scheibe zu wecken, worauf das rotierende Rumpelstilzchen jedes Mal schrie: "Nicht klopfen, das können die Schlangen gar nicht leiden." Die Schlangen schliefen eingerollt vor den fotografierten Kulissen wüstenartiger Landschaften und ließen sich auch von den Ansagen der Verspätungen nicht stören. Die Punks hatten das Hindernis als Chance erkannt. Jeder, der Kupferkopf oder Puffotter betrachtete, wurde gefragt, ob er mal ´nen Euro habe. Hätten sie eine Königsschlange um den Hals getragen, wäre die Ausbeute wesentlich besser gewesen. Ein junger Mann fragte, ob er sich mal eine Texasklapperschlange um den Hals legen dürfe. "Wir sind hier nicht in Indien, junger Mann", sagte der Reptilienwärter vorwurfsvoll, morgen um 15 Uhr können Sie hier auf der Bühne Schlangen streicheln", worauf ein Witzbold meinte, er müsse nur ins Reisezentrum gehen, da könne er es sofort tun. "Beißt die?", fragte eine Frau, die eben noch erzählt hatte, dass es Teil ihrer Therapie gewesen sei, eine Schlange anzufassen. "Die beißt nicht, die würgt." - "Gut zu wissen."
Reisen verbindet. Bei Reisen auf der Schiene verbindet inzwischen allerdings nur noch der gemeinsame Feind - die Bahn. Inzwischen bin ich eine Anhängerin der Verschwörungstheorie, dass der Vorstand der DB nebenbei unter falschem Namen eine Billigfluglinie oder wenigstens ein Autohaus betreibt, wie ließe es sich sonst erklären, dass die Bahn mit der Abschaffung der alten Bahncard nun auch noch ihre letzten treuen Kunden vergrault und die, die nicht umsteigen können, wie Geiseln benutzt.
An diesem Samstagabend musste ich von Stendal nach Berlin. Die Schaffnerin in der Regionalbahn nach Rathenow konnte mir nicht erklären, warum eine Fahrkarte von Berlin-Staaken nach Stendal 6,20 Euro kostet, von Stendal nach Berlin-Staaken aber 8,20 Euro. Ist das der Mitleidsbonus, wenn man in die Provinz muss, oder erhebt Berlin, um seine Schulden zu tilgen, eine Einfuhrsteuer von zwei Euro? In Rathenow aber war erst einmal Schluss, weil der Zug von Jüterbog über Berlin Stadtbahn auf sich warten ließ. Die Stationsvorsteherin saß in einer telefonzellenähnlichen Behausung und gab die halbe Stunde Verspätung durch, dann stöpselte sie ihre Telefonanlage aus, nahm sie unter den Arm und verließ den Bahnsteig. Ich ging ihr aus Langeweile hinterher. Der Länge des Tunnels nach zu urteilen, muss der Rathenower Bahnhof früher mindestens zehn Bahnsteige gehabt haben, jetzt gibt es nur noch die Bahnsteige 3 und 4. Dort, wo früher mal Bahnsteig 1 war, donnert alle fünf Minuten ein ICE mit mindesten 150 km/h vorbei, gegen den Sog sind die Rathenower, die in die neue Zeit nicht mitgenommen wurden, durch eine Glaswand geschützt, die den Korridor der Globalisierung von Städten wie Rathenow oder Stendal abtrennt, die nur noch Illustrationen am Wegesrand sind. Vielleicht sind die Regionalbahnbenutzer Teil des Mehdornschen Spiels zur Unterhaltung von ICE-Kunden, schließlich gibt es in jeder Modelleisenbahnanlage Figuren. "Guck mal, die vielen Menschen da auf dem Bahnhof? Wo sind wir eigentlich?" - "Weiß nicht, auf jeden Fall gleich in Hannover." Und dann kommt sie auch schon, die Durchsage: "Wir befinden uns in Anfahrt auf ..." Die Bahnangestellte jedenfalls durchquerte schnurstracks die menschenleere Halle des Rathenower Bahnhofs, trat auf den Bahnhofsvorplatz und überquerte ihn zügig. Etwa auf der Mitte überholte sie einen uralten Mann, der in Zeitlupentempo sein Fahrrad schob und alle drei Schritte stehen bleiben musste, um durchzuatmen. Hatten wir Wartenden ihrer Kündigung beigewohnt? Heuerte sie jetzt als Stewardess an? Der verspätete Zug jedenfalls fuhr dann auch ohne ihre Ansage wieder zurück. Vielleicht reiste ja eine Texasklapperschlange als blinder Passagier mit, denn die Schlangenfarm war seit einer Woche wie vom Erdboden verschluckt.
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