Blondie

Berliner Abende Die mannsgroßen Tulpen, die kopfüber von der Decke hängen, flattern leise im Zug der sich öffnenden und schließenden Tür, auch die vielen roten ...

Die mannsgroßen Tulpen, die kopfüber von der Decke hängen, flattern leise im Zug der sich öffnenden und schließenden Tür, auch die vielen roten Flugzeuge vibrieren leicht über den Köpfen der Passanten. Die Buchstaben der Anzeigetafel fallen Zeile um Zeile um und machen neuen Platz. Ganz oben wird nun für 21.38 Uhr die Abfahrt des D-Zuges nach Kiew angezeigt. Ein Mann mit einem dichten, struppigen Vollbart, der fast waagerecht von seinem Kinn absteht, lässt sein Gepäck auf der Bank stehen, obwohl gerade angesagt worden ist, dass auf Koffer und Taschen aus Gründen der Sicherheit geachtet werden soll und geht durch die Tür unter das Schleppdach, wo das Rauchen noch erlaubt ist.

In einer Nische zwischen Fahrplan und einem Schrank mit der Aufschrift "Brandmeldezentrum" schwenkt eine ältere Frau mit schlecht blondiertem Haar eine halbvolle Flasche Schnaps und schreit: "Party jetzt!". In der anderen Hand hat sie einen Kassettenrekorder, aus dem blechern Blondies Sunday Girl durch die Halle rauscht. Sie singt laut und falsch mit: "Lucks leik mie in enaser wörld" und dreht sich um die eigene Achse, bis sie das Gleichgewicht verliert und auf den Hallenfußboden fällt, allerdings ohne Flasche oder Kassettenrekorder fallenzulassen. Jetzt liegt sie da wie Gregor Samsa am Morgen. Zwei Punks springen ihr entgegen, einer greift sich den Rekorder, wechselt die Blondie-Kassette gegen eine andere und drückt auf Play. Die Betrunkene protestiert, als nun schneller Punk aus dem Gerät dröhnt und die beiden Jungen einen Pogo anfangen. Der Bärtige, die brennende Zigarette noch in der Hand, eilt der Frau zu Hilfe, die, kaum ist sie wieder in aufrechter Stellung, zu einer der Telefonsäulen rennt, 110 eintippt und "Hilfe, Polizei, ich werde beraubt", schreit. Der Bärtige sagt: "Beruhige dich, Karla", aber sie trampelt auf einem Bein wie Rumpelstilzchen.

Zwei Reisende kommen durch den Eingang und machen einen großen Bogen um die Gruppe, ehe sie mit der Rolltreppe ins Untergeschoss fahren, wo es zu den Gleisen geht.

Ein Mann und eine Frau in der blauen Uniform des Bahn-Sicherheitsdienstes kommen mit strengen Gesichtern und gemessenen Schrittes auf die Gruppe zu. Die Uniformierte stellt den Kassettenrekorder ab. Der eine Punk tauscht mit einer schnellen Bewegung die Kassetten wieder aus und macht sich mit seinem Kumpel aus dem Staub, ehe die beiden Sicherheitsleute das "Ihre Papiere bitte", ausgesprochen haben. In die Stille dröhnt die Durchsage, dass der Zug nach Kiew mit Kurswagen nach Krakow, Odessa, Warschau, Minsk und Simferopol Einfahrt hat. "So", sagt der Uniformierte, er spricht das o kurz aus, "für heute ist jetzt ma Feierabend." - "Nee, Party iss", lallt die Frau und reicht ihm die Flasche. Da er sie nicht rechtzeitig nimmt, lässt die Betrunkene sie fallen. Glas splittert, die Frau kreischt wie ein gequältes Tier. Es kommt zu einem Wortgefecht, in dessen Folge die Betrunkene den Inhalt ihrer Umhängetasche wütend auf den Boden kippt und die beiden Securityleute darin herumstochern. Der Bärtige redet beruhigend auf sie ein.

"Morgen schläftse aber mal aus", sagt die Frau vom Sicherheitsdienst zur Betrunkenen, "da kommste nicht." Sie sammelt die Sachen wieder ein und reicht ihr Tasche und Rekorder. "Na, mal sehn, was so anliegt", sagt die Betrunkene. "Hurry up, Hurry up", plärrt Blondie nun wieder vom Band.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden