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BERLINER ABENDE 37 Etagen über dem Alexanderplatz fliegen große Motten gegen die Fensterscheiben. Ich wusste nicht, dass sie so hoch fliegen können. 120 Meter tiefer ...

37 Etagen über dem Alexanderplatz fliegen große Motten gegen die Fensterscheiben. Ich wusste nicht, dass sie so hoch fliegen können. 120 Meter tiefer sitzen die Punks mit ihren Hunden auf den Stufen zum Forum-Hotel. Einer läuft auf einen Passanten zu. »Haste mal‚ ne Mark?« Hier oben geht es um höhere Beträge. Einer legt einen Jeton mit einem Gegenwert von tausend Mark auf die Posi tion »Transversale Simple« des Roulettetisches. »Nichts geht mehr«, sagt der Croupier, der das Spiel von einem Barhocker aus überwacht. Die Kugel landet auf der Sieben. Die tausend Mark sind verloren. Der Spieler, der aussieht wie ein Tankerkönig oder ein Ölmagnat, zuckt mit keiner Wimper. Er wirft zweihundert Mark auf den Spieltisch und tauscht sie gegen neue Jetons.

Hier oben ist das ganze Leben ein Spiel. Von einer zur anderen Sekunde kann alles verloren sein. Die Fenster in der 37. Etage sind nicht zu öffnen. Keine Chance für Verlierer zu springen, wenn Haus, Auto und Ehegattin verspielt sind. »Ich erkläre ausdrücklich, dass mir meine wirtschaftlichen Verhältnisse eine Teilnahme am Spiel ohne Gefahr für mich und Dritte gestatten.« Das hatte ich am Eingang auf einer kleinen Karte unterschrieben, bevor ich ins Reich der Spieler gelassen wurde, vorbei an einem Türsteher, der die Italienerinnen vor mir wieder weggeschickt hatte, weil ihm ihre Kleidung dem Ort nicht angemessen erschien. Hier muss man im Anzug verlieren. Oder im kleinen Schwarzen. »Spielen wir um meine Freitag-Kolumne«, hatte ich zu einer Freundin gesagt. Selbst in Fünferjetons aufgeteilt, reicht das nicht weit, wenn man kein Glück hat. Um länger als fünf Minuten bleiben zu können, legen wir einfache Sachen wie Dutzend oder Kolonne, wo die Chancen größer, der Gewinn aber gering ist. Wir drücken uns um Plein, legen maximal Carré, das bei Gewinn den Einsatz verachtfacht. Der Croupier neben uns lächelt. Er hat uns durchschaut. Wir sind keine Spielerinnen, wir sind die armen Gäste, die sich ins Wohnzimmer fremder Leute geschlichen haben, das in dezentem Blau gehalten ist, damit die Spieler einen kühlen Kopf behalten. Das Spiel geht von vorn los. »17, 18, 21, Zero.« Den drei Croupiers schwirren Zahlen um den Kopf. Die Spieler werfen ihnen die Jetons auf den Tisch, und sie schieben sie geschickt mit grazilen Stangen, die an Schneeschieber für Puppen erinnern, auf die gewünschte Position. »Nichts geht mehr«. Das ist die Sekunde der Springer, die schnell noch setzen. Unsere Fünfer stechen heraus, hier wird mit Zehner-, Fünfziger- und Hunderterjetons gespielt. Wenn jemand gewinnt, sagt er »Zwanzig für die Angestellten«, seltener Fünfzig, manchmal zehn. Die Croupiers bedanken sich, ohne vom Spiel aufzusehen, und lassen die Jetons in einem kleinen Schlitz in der Tischplatte verschwinden.

Die Kugel fällt auf 20. Alle haben verloren. Die Croupiers schieben die Jetons zu einem großen Haufen und lassen sie im Inneren des Tisches verschwinden. Es sind einige Tausend Mark. An der äußersten Ecke des Tisches sitzt ein Mann, der lange Zahlenkolonnen auf einem Zettel notiert. Wahrscheinlich ein Mathematiker, der mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung seiner Spielwut Herr zu werden versucht. »Ich bitte, das Spiel zu machen.« - »Zero, 32, 36, 31, 34, wir müssten längst Pause haben.« Einem der Croupiers knurrt der Magen. »Uns hat man vergessen. Nichts geht mehr.« Wie wird man Croupier? Über das Arbeitsamt? Am Nebentisch ist zum dritten Mal die Kugel auf die Neun gefallen. Eine Frau stapelt den Gewinn in Säulen zu zehn Jetons neben der linken Hand und zündet sich gelassen eine Zigarette an. Die Männer sind hier in der Überzahl.

An der Bar sitzt ein trauriger Verlierer. »Hitler hatte nicht Schuld«, sagt er, »Schuld hatten die, die ihm hinterhergelaufen sind. Und überhaupt, hau mir ab mit Politik und weißen Käse. Da braucht doch nur ein neuer zu kommen.« Der Barmann sagt: »Ja ja«, und wienert die Gläser. Wahrscheinlich muss er sich die ganze Woche über solche Geschichten anhören und schweigen wie ein Grab.

Wir schauen den Black-Jack-Spielern über die Schulter. Hier geht es ernsthafter zu. Ganz außen sitzt ein junger Mann. Seine Augen glänzen, als hätte er Fieber. Vor ihm liegen noch drei Zehnerjetons. Er setzt sie alle auf einmal. Der Croupier, eine Frau, zieht mit großer Schnelligkeit die Karten aus einem Kasten und legt sie den Spielern vor. Sie sucht den Augenkontakt. Ihr muss auffallen, dass der junge Spieler nervös ist. Nach der dritten Karte ist klar, dass er alles verloren hat. Er macht eine unbedachte Bewegung, besinnt sich dann aber und steht auf.

Die schlechtesten Gäste sind die, die rechtzeitig aufhören. Das letzte Carré auf dem Spieltisch hat mir dreimal Glück gebracht. Ich tausche die Jetons zurück und habe exakt meinen Einsatz wieder heraus. Der Ausflug in den Spreewald ist gerettet.

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