Man konnte das Wetter an diesem 9. Mai in Rheinsberg nicht anders als strahlend bezeichnen, auch wenn das Wort strahlend an diesem Tag eigentlich der Fracht vorbehalten war, die es galt, ohne Zwischenfälle bis nach Greifswald ins Atommüllzwischenlager zu transportieren. Im Ort und in den Wäldern war alles grün, aber auch das Adjektiv grün galt nicht der Natur, sondern den über 6.000 Polizisten, die sich auf den Waldwegen gegenseitig auf die Füße traten und auf den Lichtungen gigantische Heerlager errichteten. General Schönbohm, der Spezialist für Kesselschlachten, hatte im Vorfeld mehrfach betont, dass es eine Deeskalationsstrategie nicht geben würde, und so wurde schon seit Wochen in Rheinsberg nach Feinden gesucht. Man hatte in Erwartung der vielen Castorgegner sogar extra ein Gefängnis in Neuruppin eingerichtet. Auf dem Weg nach Rheinsberg hatte ich die gesamte Ausstattung der Polizei mehrerer Bundesländer bewundern können. Es war ein bisschen wie zu den hohen Feiertagen der DDR, wenn am Ende der Demonstration die Armee mit sämtlichen Waffengattungen die Karl-Marx-Allee herunterfuhr.
Eine Woche vorher war ich zusammen mit einem Fotografen im Kernkraftwerk gewesen. Die Castoren brüteten in der Sonne, streng bewacht von bewaffneten Patrouillen, die sich beim Hin- und Hergehen einen Sonnenbrand holten. Das KKW-Gelände war besetztes Gebiet, und selbst der Pressesprecher hatte den Überblick verloren, welche Uniform zu welcher Waffengattung gehörte. Auf dem Rückweg durch den Wald wurden wir von einer Streife angehalten. Ich hatte mir gerade ein schwarzes Kapuzenshirt übergezogen, weil es langsam kühl wurde. Der Polizist glaubte, endlich einen guten Fang gemacht zu haben. Schließlich hatte man ein paar Tage vorher eine Hütte im Wald entdeckt, in der eine mit Nägeln gespickte Keule gefunden worden war. Die Keule war im Laufe der Zeit zu einer riesigen Waffe geworden, nur die Täter bleiben verschwunden. Am nächsten Tag bekamen wir einen Anruf von der Pressestelle der Polizei, dass wir unsere Journalistenausweise wieder abgeben sollten. Wir wären nicht berechtigt, als Journalisten am "größten Polizeieinsatz der Geschichte Brandenburgs" (General Schönbohm) teilzunehmen. Wir kamen dann aber trotzdem.
Dass der Tag des Castortransportes auf den 35. Jahrestag der Eröffnung des Kernkraftwerkes fiel, war nur ein Zufall. Am 9. Mai 1966 wurde das Werk eingeweiht. Die ersten beiden Transporte von Kernbrennstäben wurden mit einer Chartermaschine von Moskau auf den Militärflugplatz Oranienburg geflogen. Von dort aus brachten sie Soldaten auf Armeeplanfahrzeugen über die Holperstraßen ins Kernkraftwerk. Im Laufe der Betriebszeit gab es fünfzehn Rücktransporte abgebrannter Kernbrennstäben in die Sowjetunion, wo sich hinter Brest ihre Spur verlor. Vier Wochen später kamen die Waggons leer wieder zurück. Während der Transporte patrouillierten an den unbeschrankten Bahnübergängen Polizisten, damit kein betrunkener Genossenschaftsbauer mit seiner Schwalbe gegen den Zug fuhr.
Seit 1990 ist das Werk abgeschaltet. Bis 2009 soll an der Stelle, wo das Kernkraftwerk heute noch mit seinen meterdicken Betonmauern steht, wieder grüne Wiese sein. Am Bahnhof von Rheinsberg veranstaltete ein Häuflein Castorgegner eine Mahnwache gegen den Atomkonsens der Regierung und die ungeklärte Endlagerfrage. Von den Rheinsbergern konnten sie keine Unterstützung erwarten. Und so kamen auf einen Demonstranten 200 Polizisten.
Die Polizei verhaftete einen Sprecher der Bürgerinitiative, der in der Nacht über die Gleise gelaufen war, um Holz für das Mahnwachenfeuer zu holen. Der Anti-Castor-Aktivist bekam für die Dauer des Einsatzes Ruppin-Verbot. Selbst hartgesottenen Polizisten kam diese polizeiliche Maßnahme wie ein Granatfeuer gegen Spatzen vor. Drei Uhr nachts wurde dann der Tross der Journalisten durch die Wälder um Rheinsberg eskortiert. Man hatte extra einen Hektar Wald im Naturschutzgebiet gerodet, um den Fotografen freies Blickfeld auf das Werk zu schaffen. Um fünf ging dort unten das Tor auf und der Zug setzte sich in Bewegung. Aus den Fenstern der zwischengehängten Reisezugwagen winkten Angehörige des Bundesgrenzschutzes wie Ferienlagerkinder, die ihre Mütter verabschieden. Ein Teil der Journalisten verschlief den großen Augenblick im Auto. Die Ankündigung des Polizeisprechers, der Zug würde noch einmal zurücksetzen, um die restlichen Wagen anzuhängen, erwies sich als Ente. Als zwei Stunden später die Rücklichter des Zuges hinter der Kurve Richtung Lindow verschwanden, sagte ein Polizist sarkastisch, die Brandenburger Polizei hätte allen Grund gehabt, gegen die Strukturreform ihres Oberbefehlshabers zu protestieren. Das wäre ein schönes Erlebnis gewesen: Protestierende Polizisten auf den Gleisen.
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