Als ich Eva Marcu kennenlernte, war sie 94. Ich stand in ihrem Appartement am Central Parc und kam mir vor wie eine Walküre, geradewegs aus einer Wagneroper in New York gelandet. Sie war zwei Köpfe kleiner als ich und schien leicht wie eine Feder. "Sie ist eine sehr strenge Intellektuelle", hatte mir Peter Jung gesagt, der mich zu ihr geschickt hatte, damit sie mir etwas über seinen Vater Franz Jung erzählte, "und sie kann sehr schroff sein."
"Als erstes essen Sie mal was", sagte sie und stellte mir einen Teller mit Sandwiches hin, "und dann erzählen Sie mir etwas über Deutschland. Über Franz Jung kann ich Ihnen nicht viel sagen, außer, dass ich seinen Heiratsantrag abgelehnt habe." Ich blieb zwei Stunden in ihrem spärlich eingerichteten Appartement und aß brav die Sandwiches auf. Als ich ging, hatte ich wenig über Franz Jung erfahren, aber eine Person kennengelernt, die mir die nächsten zwei Jahre über 300 e-mails schreiben würde. Denn anders als viele Jüngere, beherrschte sie den Umgang mit dem Internet perfekt. Erinnerungen über ihre Kindheit und Jugend in Berlin ließ sie sich aus der Nase ziehen. Die Personage dieser Geschichten war ein "Who is who" der linken Intellektuellen der Weimarer Republik, denn der Vater, ein Philanthrop, pflegte ein offenes Haus. Auf einem Foto der zwanziger Jahre sieht man Eva als eine dieser modernen jungen androgynen Frauen.
Eva Marcu hat jede aktive Zeitzeugenschaft abgelehnt. Sie sei immer nur mitgegangen. Mit ihrem Mann Valeriu Marcu, einem jüdischen Publizisten aus Bukarest, der eines Tages bei ihrem Vater aufgetaucht war und den sie bald heiratete, musste sie nach der Machtergreifung der Nazis Berlin sofort verlassen, denn er war in der Berliner Gesellschaft bekannt wie ein bunter Hund, vor allem wegen seiner Streitgespräche mit Goebbels. Das Paar ging nach Nizza, wo ihre Tochter Miki geboren wurde. Mit Hilfe des Komitees von Varian Fry gelang ihnen bei Kriegsausbruch die Flucht nach New York. Ihr Vater wurde in Frankreich von seinem Fahrer verraten und in ein Vernichtungslager transportiert. Ihr Mann Valeriu war erst 43, als er bei einer Feier plötzlich starb. Eva Marcu schlug sich mit ihrer Tochter in Manhattan als Dozentin durch.
Als sie 80 war, machte sie einen Handel zwischen dem Teufel und ihrem Gehirn: Um nicht an Alzheimer zu erkranken, zwang sie sich jeden Tag zu einer Stunde Latein. Sie hasste das, aber sie meinte, so würde sie nicht verblöden.
Ich mochte ihren Berliner Witz jenseits von "Icke-dette-kieke-ma". Nie war mir der Verlust von unsentimentaler Intellektualität, den der Nationalsozialismus in Deutschland bewirkt hatte, so körperlich bewusst. Dass Berlin keine Metropole werden will, ist eine Hypothek dieser Vergangenheit.
Im letzten Sommer schrieb sie, dass ich bald kommen sollte, wenn ich sie noch einmal sehen wolle. Bevor ich nach New York flog, bin ich ihre Wege durch Berlin gegangen. Sie führten mich in die Köpenicker Straße, wo ihr Vater mit seinem Bruder eine Postkartenfabrik hatte und wo heute ein schmuckloser WBS 70-Bau steht. Nach Dahlem, wo die beiden Familien in enger Nachbarschaft wohnten. Ich nahm den Weg zur Schule, den Eva Marcu vor 80 Jahren lang täglich fuhr, weil der Vater meinte, seine Tochter solle von den zwei humanistischen Gymnasien Berlins unbedingt das im Osten, im Friedrichshain, besuchen, wo die Mädchen nicht so verwöhnt seien. Über ihren Weg zur Schule schrieb sie: "Wie kann man es erklären, das mir von allen Reisen zur und von der Schule kein Ereignis, keine Begegnung in Erinnerung geblieben ist? Nichts als törichte Reklame: "Feuer breitet sich nicht aus/Hast du Minimax im Haus". (Worauf ein anonymer Witzbold antwortete, ebenfalls reimend: Minimax ist aber Mist/ Wenn du nicht zu Hause bist.")
Ihr Deutsch war perfekt und ohne Anglizismen. "Die gehören da auch nicht hin", schrieb sie mit ein wenig gespielter Empörung.
Sie interessierte die Gegenwart, in Deutschland, in Amerika. "Ich habe eine große Schwierigkeit. Mir ist die momentane amerikanische Politik ekelerregend, aber ich kann darüber nicht offen reden, weil mir zu allen Zeiten aus der Vergangenheit die Abscheulichkeiten ALLER ANDEREN entgegenspringen."
Ich bat sie, mir noch ein wenig Gesellschaft zu leisten. "Ja, um mich mit Ihnen zu unterhalten, wäre ich bereit, noch eine Weile zu leben, aber 100 Jahre sind mir keine schöne Aussicht. Hatte ich schon die Base erwähnt, die gerade in London mit 105 sanft entschlafen ist? Kurzum, Annett, lassen Sie mich mal ruhig sterben. Ich habe ein respektvolles Gefühl allen meinen Toten gegenüber."
Am 12. Mai ist Eva Marcu in Riverdale, New York, gestorben.
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